24. August 2021 , Dr. Christine Leithäuser
Das Projekt Utopiastadt am Mirker Bahnhof ist zehn Jahre alt. Die Baustelle wirkt verlassen. Was ist von den ursprünglichen, hochfliegenden Plänen, die mit fast 5 Mio Euro vom Bund, dem Land und der Kommune bezuschusst werden, bislang umgesetzt worden? Wie funktioniert überhaupt dieses Projekt? Wer sind die entscheidenden Akteure? Eine Bestandsaufnahme.
Eine kleine Gruppe trifft sich an diesem Samstag zum sogenannten Workout im ehemaligen Bahnhof Mirke. Es sind durchweg sympathische Menschen, die mit Elan und Überzeugung gekommen sind, um mitzuhelfen, diesen Bahnhof wieder nutzbar zu machen. Als Ort der Begegnung, für Kunst, Bildung, Gastronomie und Diskurs.
An diesem Tag wird Putz abgeschlagen. Der ehemalige Wartesaal erster Klasse ist fast vollständig entkernt, der Boden ist heraus, Teile der Deckenverkleidung sind abgebaut, der Himmel schaut durchs Dach herein. Der Raum daneben geht nach Westen auf den Garten hinaus. Hier wurden Teile des Holzfachwerks ausgetauscht, die Klinker-Ausfachungen sind herausgenommen und teilweise ersetzt. Insgesamt fehlen große Abschnitte des Westgiebels, der notdürftig abgestützt ist.
Es sind ausschließlich Freiwillige, die den „workout“ organisieren, sie selbst haben keine bauhandwerkliche Ausbildung. Weder der Geschäftsführer noch die Architekten sind als Bauleiter vor Ort. Die Baustelle selber ist gefährlich und chaotisch: überall gibt es Stolperfallen, der Boden ist teilweise mit morschen Brettern belegt, dazu vollgestellt. Überall liegen Materialien und Schutt herum. An den Gerüsten fehlen Teile der Absturzsicherungen und Stabilisatoren. Niemand trägt Arbeitsschuhe, Staubschutz, Helm, Handschuhe. Es gibt kein richtiges Werkzeug. Trotzdem banlancieren die Ehrenamtler in vier Metern Höhe, der abgeschlagene Putz klatscht auf den Boden.
Der Bahnhof Mirke steht unter Denkmalschutz. Aus Fördermitteln des Bundes und des Landes wurden insgesamt 4 996 433.- Euro bereitgestellt, um ihn fachgerecht zu sanieren, zusammen mit der ebenso geschützten Treppenanlage auf dem Vorplatz. Laut Gesetz können maximal 80 Prozent der insgesamt benötigten Summe gefördert werden. Die fehlenden 20 Prozent müssen als Eigenanteil dazu kommen. Durch Spenden, eigene Geldmittel oder Eigenleistung. Aus diesem Grund rufen die im Bahnhof ansässige gGmbH Utopiastadt, der gleichnamige Förderverein und das Forum:Mirke, eine Stadtteilorganisation, zur wöchentlichen freiwilligen Arbeit im Bahnhof auf. Aber es kommen nur sehr wenige Enthusiasten vorbei.
In die mediale Darstellung des Projektes Utopiastadt wird demgegenüber viel Arbeit investiert. Diese ist vollkommen abgelöst von den alltäglichen Baustellenproblemen. Man könnte glauben, dass hier etwas sehr Großes, Bedeutsames geschieht: „Utopiastadt ist als vollständiges Bottom-Up-Projekt aus der Kreativ- und Engagementsszene der Stadt entstanden und wurde von Anfang an entlang der Ideale Commo[n]s, Teilhabe und Suffizienz gedacht und somit zum Kristallisationspunkt für Experimente nachhaltigen Soziallebens: Gemeinschaftlich genutzte Räume und Flächen, Sharing-Prinzipien bei Mobilität, Werkzeug oder Räumlichkeiten, nachhaltige Nutzungen durch Reparaturcafés, Zukunftsforschung praktisch in Hacker-Spaces und theoretisch in Tagungen mit Bürger:innenf[or]schungsanspruch, praktische Erprobung von gemeinwohlorientierten Wirtschaftsmodellen und vieles mehr.“
Fragt man Menschen, die schon sehr lange dabei sind und sich auch im Förderverein engagieren, heißt es: „Ich hatte eine Frage wegen meines neu gekauften Computers. Hier traf ich auf sehr nette Leute, die mir weiter geholfen haben. Dann bin ich immer wieder hingegangen. Weil ich schlecht nein sagen kann, habe ich immer häufiger auch Aufgaben übernommen. Wie sich das Ganze finanziert, weiß ich nicht, da musst du den Christian fragen, der macht das mit den Zahlen.“
Der Christian, vollständig Christian Hampe, ist zusammen mit Beate Blaschczok Inhaber einer GbR namens clownfisch, ab dem Jahr 2007 veranstalteten sie Events im Bereich Kultur und Gesellschaft in Wuppertal und schrieben darüber. Um sich zu vergrößern und um einen festen Ort für ihre Veranstaltungen zu finden, verfassten sie mit der Wuppertaler Wirtschaftsförderung und der Bergischen Entwicklungsagentur 2009 ein Exposé und einen Businessplan zu „Utopiastadt“. Die Wuppertaler Sparkasse wurde als Eigentümerin des denkmalgeschützten, brach liegenden Bahnhofs Mirke dazugeholt. Im Jahr 2011 mündeten die Verhandlungen in einen Pachtvertrag. Die clownfisch GbR durfte den Bahnhof Mirke vier Jahre lang für ihre Zwecke kostenlos nutzen. Dazu stellte die Sparkasse noch 100 000 Euro für notwendige Instandsetzungsarbeiten zur Verfügung. Noch im selben Jahr beginnt die sogenannte Qualifizierungsphase für das Programm „Initiative ergreifen“ des Landes NRW. Das heißt, dass clownfisch durch die Stadtverwaltung und eine vom Ministerium für Bau und Kommunales beauftragte Agentur beraten wurde mit dem Ziel, dass „clownfisch“ einen erfolgreichen Antrag für das Förderprogramm stellen kann. Denn Fördermittel des Bundes sollten den Hauptteil der Ausgaben für die Sanierung und den Umbau des Bahnhofes decken.
Die Sanierungsarbeit in Utopiastadt erstreckt sich zuerst auf den zentralen Innenraum, in dem das „Café Hutmacher“ mit eigenem Bier im Jahr 2013 öffnet. Die Selbsthilfe-Werkstatt, der Fahrradverleih, das Programmieren und Urban Gardening werden von verschiedenen Gruppen aus der Nordstadt organisiert und auf dem Grundstück oder im Haus umgesetzt. Seit 2014 kooperiert Utopiastadt angeblich mit der „Alten Feuerwache“ von der Gathe, einer gGmbH, die ihren Schwerpunkt bei der Kinder- und Jugendarbeit und der Durchführung von kulturellen Veranstaltungen hat. Die von der Wuppertalbewegung instand gesetzte Nordbahntrasse als Fuß- und Radweg wird ebenfalls 2014 eröffnet, Utopiastadt profitiert von mehr Laufkundschaft und wird bekannter.
All diese Gruppen sind im Forum: Mirke vertreten, einer 2013 von Utopiastadt gegründeten Stadtteilorganisation, die ein Forum für die Bewohner des „Quartier Mirke“ als Teil der Nordstadt sein will, ein Ort zum Austausch und für politische Arbeit. Auch diese Organisation wird aus öffentlichen Mitteln gefördert, mit insgesamt 96 000 Euro bislang. Eine Gruppe von sechs Personen organisiert die Zusammenkünfte seit 2014, darunter sind Christian Hampe und David Becher von Utopiastadt. Von 2013 bis Juni 2020 kamen 192 Teilnehmer zu den Treffen, darunter 29 regelmäßig. Man kann sagen, dass das Forum eher wenig Menschen im „Mirker Quartier“ mobilisiert, dort wohnen ca. 8600 Personen. Umso größer ist seine Wirkung auf die Stadtverwaltung und Politik.
2014 schreibt die Abteilung für Stadtentwicklung ein Konzept mit dem sperrigen Namen Fortschreibung des Integrierten Handlungsprogramms für die Bereiche ‚Mirker Quartier‘ und ‚Südstraße‘. Utopiastadt ist dort an herausragender Stelle vertreten, ebenfalls das Forum Mirke. Es ist die Voraussetzung und das zentrale Entscheidungsdokument für die Bewilligung der Fördermittel. Der gemeinnützige Verein Utopiastadt e.V. wird gegründet und es wird eine Kooperation mit dem Wuppertal Institut und dem Zentrum für Transformationsforschung beschlossen. Utopiastadt hat damit eine förderfähige Rechtsform und ist zusätzlich als Forschungsobjekt geadelt.
Ein Blick in die Unterlagen eröffnet die damalige Vision: Dieter Bieler-Giesen, Sachbearbeiter der Abteilung Stadtentwicklung, der das Projekt von Anfang an bis heute begleitet, beschreibt im Jahr 2014 die utopische Zukunft:
„2018 ist »Utopiastadt« mit dem umgebenden »Campus« ein zentraler Ort der Stadt- und Quartiersentwicklung. Als Kultur- und Kreativwirtschaftszentrum des Bergischen Landes mit einer weiten Ausstrahlung ins nordrhein-westfälische Umland und dem Mirker Quartier als Reallabor, sowie der belebten Nordbahntrasse steckt das Quartier mitten in einer inhaltlichen wie physischen Renaissance. Das Hauptgebäude des Mirker Bahnhofs ist mit Hilfe von Städtebaufördermitteln über das Förderprogramm »Initiative ergreifen«, Investoren, Förderern und viel bürgerschaftlichem Engagement in den wesentlichen Punkten kernsaniert. Im Inneren des Hauses sind Büro- und Atelierräume, sowie freie Coworkingflächen für ansässige Freelancer, Agenturen, Künstler und Projektbüros entstanden. Immer mehr Sozial- und Raumunternehmer bilden hier ein Wissens- und Ressourcenzentrum und arbeiten gemeinsam mit Einrichtungen wie TransZent, CSCP, Institut für Bürgerbeteiligung oder dem Wuppertal Institut zusammen. In Kooperation mit diesen Einrichtungen und Unternehmen beginnt die Utopiastadt gGmbH mit dem Utopiastadtstudium Generale und schafft somit die Grundlage für eine nachhaltige Implementierung von bewusster Entwicklung von Stadt und Gesellschaft. Die Gastronomie hat sich weiterentwickelt und bietet den Besuchern und der Gemeinschaft abwechslungsreiche Küche mit Gastköchen aus der bergischen Gastronomie und Produkten aus der regionalen Landwirtschaft. Durch Kooperationen, Zusammenarbeit mit Projekten der urbanen Landwirtschaft und Engagement der Quartiersgemeinschaft verfügt »Utopiastadt« über gesunde und gepflegte Grünflächen und weite Außenanlagen, die nahtlos in die Bereiche der Nordbahntrasse übergehen. Der sogenannte »Utopiastadtgarten« ist Treffpunkt der regionalen Urban Gardening Szene und zugleich ein Publikumsmagnet an der Nordbahntrasse, ist Lehr- und Lernort sowie Lieferant von lokalem Gemüse, Kräutern und Blumen. Zahlreiche Veranstaltungen und Aktionen im kulturellen, wissenschaftlichen und sozialen Bereich ziehen Interessierte allabendlich in die Nordstadt und nach »Utopiastadt«. Das Trassenfest ist eine etablierte Veranstaltung für die Stadt, trägt maßgeblich zur Identifikation des Stadtteils in der Stadt bei und bringt Gäste aus einem 50 km Radius nach Wuppertal. Insgesamt ist ein Ort entstanden, der Impulse in das Quartier, die Stadt und in die Region sendet. Open-Data-Projekte werden deutschlandweit umgesetzt, Partizipations- und Katalysatorprogramme für soziale Projekte in der Nachbarschaft zeigen Wirkung, Selbstverwaltungs- und Brancheninitiativen haben ihre Arbeit aufgenommen und arbeiten eigenverantwortlich vom Utopiastadtcampus aus. Es ist eine Stätte für die Arbeit an Utopien entstanden, die sich stetig weiter entfaltet und entwickelt.“ (Handlungsprogramm, S. 51 f.)
Im Jahr 2015 folgt eine weitere Gründung. Die Utopiastadt gGmbH wird ins Handelsregister eingetragen, mit Beate Blaschczok und Christian Hampe als gleichberechtigten Geschäftsführern, alleiniger Gesellschafter ist der Förderverein Utopiastadt mit dem Vorsitzenden David Becher. Diese Konstruktion hat mehrere Vorteile: Hampe und Blaschczok können für ihr Handeln nicht haftbar gemacht werden, denn es haftet der Förderverein in Höhe seiner Mindesteinlage von 25 000 Euro. Gleichzeitig können sie ein Gehalt beziehen. Die Utopiastadt gGmbH ist eine Kleinst-GmbH mit begrenzten Veröffentlichungspflichten. Lediglich eine Bilanz muss jährlich hinterlegt werden. Und tatsächlich gibt es seitdem keine öffentliche Darstellung der Investitionen, der Gewinne oder Verluste. Auch die Mitglieder der Fördervereins erfahren nichts über die finanzielle Lage der gGmbH, die jährlichen Vereinsversammlungen gehen auf das Thema nicht ein.
Die Geschäftsführer erhalten Anfang 2016 über eine Änderung der Satzung jeweils als einzelne Person die Erlaubnis „im Namen der Gesellschaft mit sich im eigenen Namen oder als Vertreter eines Dritten Rechtsgeschäfte abzuschließen“. In praxi sieht das so aus: Das Café Hutmacher im Mirker Bahnhof, das als integraler Teil des gemeinnützigen Projektes Utopiastadt von allen Außenstehenden wahrgenommen wird, wird tatsächlich von Anfang an von der „Bärtig UG“ betrieben. Diese Unternehmergesellschaft hat zwei Geschäftsführer: Christian Hampe und Christopher Bartels, die ebenfalls zwei von vier Gesellschaftsanteilen besitzen. Den dritten Anteil hält Beate Blaschczok, den vierten Urgun Ayatullah. Die Bärtig UG macht Gewinn, die letzte veröffentlichte Bilanz aus dem Jahr 2017 weist einen Bilanzgewinn von rund 47 000 Euro aus. Irritierenderweise fehlen im Handelsregister die Bilanzen aus den Geschäftsjahren 2018 und 2019. Urgun Ayatullah besitzt übrigens eine GbR mit einem Partner, Kazem Mochkabad. Deren Unternehmenszweck ist der Einzelhandel mit Getränken und die Unternehmensadresse ist der Mirker Bahnhof. Unternehmergesellschaften und Gesellschaften bürgerlichen Rechts sind bekanntermaßen keine gemeinwohlorientierten Organisationen, inwiefern sie den Idealen von Utopiastadt dienen, „Gemeinwohl, Suffizienz und Teilhabe“, und auf welcher Grundlage sie die öffentlich geförderte Immobilie nutzen, ist erklärungsbedürftig.
Am 4. Dezember 2015 wird der erste von bislang drei Zuwendungsbescheiden von der Bezirksregierung Düsseldorf ausgestellt. Die freigegebenen Mittel, 2.995.617 Euro, dürfen ausschließlich für die „Gemeinbedarfsflächen zur Quartiers- bzw. Öffentlichen Nutzung […] und zur Sanierung und Erhaltung der äußeren Gebäudehülle“ genutzt werden. Die Jackstädt-Stiftung gibt 200 000 Euro dazu. Die Sparkasse Wuppertal schenkt der Utopiastadt gGmbH das Bahnhofsgebäude und das dazu gehörige Grundstück. Dem Beginn der Arbeiten am Gebäude und der Umsetzung der schönen Stadtentwicklungsvision steht nichts mehr im Weg.
Zurück auf die Baustelle. Am 4. August 2021 finden Gespräche mit dem Bürgermeister Rainer Spieker vor dem Bahnhof statt. Ein Augenzeuge berichtet, dass folgender Satz gefallen ist: „Hier muss jetzt ganz bald etwas passieren“. An diesem Tag war die Delegation der CDU Wuppertal vor Ort, um sich die Situation am Bahnhof anzusehen. Es fehlt an der Trasse an öffentlichen Toiletten, wie weit ist der Umbau des Gebäudes gediehen? Man sieht Spieker mit angespannter Miene im Gespräch. Kein Wunder. Der „Publikumsmagnet an der Nordbahntrasse“ ist zwar seit März 2021 eingerüstet, es finden aber keinerlei Arbeiten statt. Schwarze Gewebenetze versperren den Blick auf die Fassaden. Firmenschilder suggerieren Aktivität. David Becher, Vorsitzender des Fördervereins, hat heute durch die Räumlichkeiten geführt und wird nicht müde zu betonen, wie unglaublich viel ehrenamtliche Arbeit in dem Bahnhof stecke. Am 5. August wird die WZ erstaunlicherweise nur zufriedene Kommentare der CDU-Politiker veröffentlichen.
Ein Gang ums Gebäude offenbart mehr, als in der Zeitung steht. Der Bereich für „urban gardening“ ist verwaist, die Hochbeete leer oder überwuchert, der Garten verwildert. Die „giving box“ für „foodsharing“ offeriert schwarz angelaufene Bananen und eine weiche Salatgurke. Die Fahrradreparatur-Werkstatt ist in einen Blechcontainer umgezogen. Geöffnet jeden ersten Sonntag im Monat ab 14.00 Uhr, steht in vergilbter Schrift darauf zu lesen. Überall ums Gebäude herum liegen hinter notdürftig verhangenen Bauzäunen Abbruchmaterialien auf Paletten, benutzte Kaffeebecher, aufgerissene Müllsäcke mit Dämmstoffen und Müll. Ein Bild der Verwahrlosung.
Man sieht keine Vorbereitungen für die Dacharbeiten. Es gibt kein Lager für Dachlatten, keinen Schneidebereich der Dachdecker. Vor dem Gebäude stehen ein kleiner Bauschuttcontainer der AWG und in Folie verschweißte Dämmplatten, daneben Elektroschrott. Am 12. August ein erneuter Gang ums Gebäude. Heute sind zwei Arbeiter vor Ort. Sie räumen auf und verschließen Lücken in der westlichen Fassade mit OSB-Platten. Die Reparaturarbeiten werden nicht fortgeführt. Auf neun Paletten liegen ausgebaute Klinkersteine.
Die Gastronomie beschränkt sich auf den Ausschank von Getränken bei hohen Preisen. Das Café Hutmacher zeigt sich innen seit Jahren unverändert. Aber es gibt einen zweiten, wesentlich größeren Biergarten direkt gegenüber. Denn das ehemalige Rangiergelände sowie ein Grundstück mit einer aufgelassenen Speditionshalle und der Lagerplatz eines Schrotthändlers gehören jetzt auch zur „Utopiastadt“. Insgesamt 50 000 m² wurden 2018 mit einem Millionenkredit der Sparkasse erworben und heißen jetzt „Campus“. Erste Verwendung: sommerliche Open-Air-Veranstaltungen, begleitet von Bier, Cocktails und Pizza. Und dem Hintergrundrauschen der Autobahn. Ein eher rauher Charme, jedenfalls kein Ort zum stundenlangen Verweilen. Der alte Gleisschotter ist teilweise mit Sand aufgefüllt, damit die Liegestühle besser stehen können.
Gut, man könnte denken, es ist eben alles ein bisschen langsamer als geplant, aber nicht schlimm. Dieser Eindruck wird systematisch von den führenden „Utopisten“ Christian Hampe und David Becher, mit Unterstützung des Oberbürgermeisters oder ganzer Fraktionen, erweckt. Zum Beispiel in dem Tagesthemen-Beitrag vom 18. November 2020 .
Bezeichnenderweise wird immer wiederholt, was man alles vor habe und wie groß die Eigenleistung der Ehrenamtler sei. Richtig, aber man muss dennoch trennen zwischen denjenigen, die einfach mitarbeiten, denjenigen, die das Geld verwalten und denjenigen, die qua Amt eine Kontrolle über die korrekte Verwendung der Mittel ausüben müssen. Bei Utopiastadt verschwimmen diese Rollen.
Sven Macdonald zum Beispiel, seit Januar 2021 Abteilungsleiter im Ressort Stadtentwicklung, früher Projektleiter bei der Wirtschaftsförderung Wuppertal sowie Geschäftsführer der Wuppertaler Quartierentwicklungs GmbH, hat in den beiden letzten Positionen mit den Utopisten programmatisch zusammengearbeitet. Als Mitglied des Beirates des Programms „Initiative ergreifen" des Ministeriums für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung hat er ein Votum über die Förderfähigkeit des Antrags „Utopiastadt“ abgegeben. Als Mitglied des Fördervereins Utopiastadt moderiert er eine Veranstaltung des Forum: Mirke zum Thema „gemeinwohlorientierte Flächenentwicklung als Vorbild für Stadtentwicklung“ und als Chef der Stadtentwicklung müsste er darüber wachen, dass die zugesprochenen Fördergelder antragsgemäß ausgegeben werden. Ebenso wie Dieter Bieler-Giesen, Sachbearbeiter Stadtentwicklung, Verfasser des Konzeptes von 2014, gern gesehener und bekannter Gast im Forum: Mirke. Sie reagieren weder auf allgemeine Interviewanfragen noch auf die Anfrage nach § 4 Informationsfreiheitsgesetz zum Investitionsplan für die erste Tranche der Fördergelder.
Bis zum 31. Dezember 2019 hätten 2.995.617 Euro in den Bahnhof Mirke investiert sein müssen. Annähernd gleich verteilt auf die Jahre 2016 bis 2019. Davon sieht man nichts. Wurde das Geld nicht ausgegeben und zurück ans Land überwiesen, wie die Förderrichtlinien es verlangen? Wurde es anderweitig ausgegeben? Das wäre interessant zu erfahren.
Auch Christian Hampe will sich nicht äußern. Er hat gute persönliche Kontakte zur jetzigen Stadtspitze. Seine Partnerin, Lana Horsthemke, war von Februar 2020 bis Oktober 2020 „Kampagnen-Koordinatorin für den Oberbürgermeister-Wahlkampf von Uwe Schneidewind“. Schneidewind war schon 2014 in seiner Rolle als „Transformationsforscher“ zu Gast bei Hampe im „Stadtentwicklungssalon“ des Café Hutmacher. Auf einem Bild aus dem Jahr 2018 sieht man Schneidewind, Hampe und Becher zusammen mit Sven MacDonald, sowie Jan Heinisch vom Ministerium für Bau und Kommunales strahlend vor dem Bahnhof stehen. David Becher kommentiert den oben erwähnten Tagesthemen-Beitrag bei Facebook am 21. November 2020 wie folgt: „liebes Tagebuch, letzte Woche haben wir angefangen, eine kleine Serie zu drehen. Sie heißt „Chrissie, ich und der Oberbürgermeister“ und handelt von einer Jungs-Gäng, die durch die Stadtteile stromert, bisschen Schabernack treibt und viele spannende Abenteuer erlebt!“ Aus diesen Zeilen spricht doch sehr viel gegenseitige Sympathie, ebenso wie aus dem dazu gehörigen Bild.
Auch die SPD hat kein Interesse daran, Kritik an Utopiastadt zu äußern. Der vorherige OB Mucke war immer ein Befürworter der Utopisten und hat den Ankauf der Bahnhofsbrache durch Utopiastadt aktiv unterstützt . Dieser Flächenkauf „für das Gemeinwohl“ wurde zu Muckes Amtszeit mit einem Kredit der Sparkasse Wuppertal finanziert, deren Träger die Stadt ist. Schon bei der Schenkung des Gebäudes und Grundstückes gleich zu Beginn von Muckes Amtszeit war die Sparkasse großzügig, angeblich soll die Immobilie im Jahr 2007 einen Verkehrswert von 792 000 Euro gehabt haben. Wie der gewährte Kredit bedient werden soll, ist natürlich ein Problem. Die erworbenen Flächen generieren kaum Einkommen. Ändern wird sich das erst mit den Mieteinnahmen aus dem solar decathlon, der auf der Campus-Fläche geplant ist. Ab Oktober 2021 wird der Campus dafür vorbereitet, im Juni 2022 findet der Wettbewerb statt und daran schließt sich nahtlos das „living lab“ bis mindestens 2025 an, in dessen Rahmen ein Teil der Wettbewerbsbeiträge des solar decathlon als begehbare Forschungsobjekte weiter zur Verfügung stehen. Ein Insider sagte, dass die Telefone heiß gelaufen seien zwischen Utopiastadt, Wirtschaftsförderung, Universität und Wuppertal Institut, damit diese beiden Events auf den Campus am Mirker Bahnhof kämen. Es sind also wieder Fördergelder, die zur Unterstützung von Utopiastadt fließen, das Projekt trägt sich nicht selbst.
Man kann diese Zusammenhänge auch lapidar mit den Worten von Prof. Lietzmann zusammenfassen, ein fundierter Kenner und Beobachter der Szene: „Da findet Kommunikation in der immer gleichen Blase statt. Very inside“ Und: „Alle Parteien haben das Projekt Utopiastadt wie eine Monstranz vor sich her getragen.“ Niemand will, dass es scheitert.
Und warum war Herr Spieker dann so nervös? Ich glaube, er ist auf ein Problem gestoßen, dass sich nicht weglügen lässt. Der Bahnhof Mirke ist vom Hausschwamm befallen. Das Dach ist seit Jahren nass, es sollte bereits ab Januar 2021 repariert werden. Im Gespräch bestätigen die freiwilligen Helfer auf der Baustelle, dass jedenfalls der Dachstuhl befallen ist. Sie meinen, das könne man in den Griff kriegen.
So erklärt sich auch die offene Westfassade. Wie weit der Befall geht, ist mit bloßem Auge nicht abzuschätzen, sehen kann man aber, dass das Dach immer noch nass und beschädigt ist. Beste Bedingungen für die Ausbreitung. Und es gibt ein weiteres Problem: Die Einsturzgefahr. Nicht nur die unzureichend ersetzten und abgestützten Fachwerkkonstruktionen sind lebensgefährlich. Vor allem besteht das Risiko, dass das Fachwerk insgesamt nicht mehr tragfähig ist und unvermittelt einstürzt. Eine Fachfirma müsste im gesamten Gebäude Proben nehmen und diese analysieren, um diese Gefahr auszuschließen. Absolut unverantwortlich ist es, die Helfer und Gäste in dieser Situation weiter im Gebäude zu lassen:
„Der Echte Hausschwamm zählt zu den am schwierigsten zu bekämpfenden Holzpilzen. Bei optimalen Wachstumsbedingungen und lang andauerndem Befall kann er Holzkonstruktionen vollständig zerstören. Die Schäden werden meist spät erkannt, da sich der Pilz innerhalb der Baukonstruktion verdeckt ausbreitet. Somit stellt der Echte Hausschwamm ein nur schwer abschätzbares Risiko dar und gilt als erheblicher Mangel nach BGB § 459 [...] Sein Myzel kann sich in Gebäuden meist ungehindert ausbreiten, da es zunächst zum Beispiel im Inneren einer Holzbalkendecke oder im Kern eines Balkens wächst. Wird der Pilz schließlich entdeckt, ist er häufig so groß und die Tragfähigkeit des Holzes oft so stark herabgesetzt, dass nur noch der Abriss der Konstruktion bleibt. Nach DIN 68800-4 (Bekämpfungs- und Sanierungsmaßnahmen gegen Holz zerstörende Pilze und Insekten) ist der Befall und Umfang des Befalls durch einen Sachkundigen festzustellen und durch eine Fachfirma zu beseitigen. DIN 68 800-4 schreibt Maßnahmen zur Sanierung vor. Der Sanierungsaufwand bei einem Befall mit Echtem Hausschwamm ist erheblich. [Man] beginnt mit der Trockenlegung von Mauerwerk und Holzkonstruktion. Befallene Hölzer und befallenes Mauerwerk sind zuzüglich eines Sicherheitsabstandes von einem Meter auszutauschen. Manchmal ist die gesamte Konstruktion zu erneuern. Nur so kann einem Wiederbefall vorgebeugt werden.
Aktuelle Fotos von der Baustelle lassen die Vermutung zu, dass sich der Hausschwamm bereits vom Fachwerk auf das Mauerwerk ausgebreitet hat. Neun Paletten mit ausgebauten Steinen lagern vor der nördlichen Fassade, auf jeder ein Schild: „Achtung Hausschwamm“. Detailaufnahmen des Fachwerks im Zentrum und an der Ostseite des Gebäudes zeigen die für Hausschwamm charakteristische Zersetzungsstruktur. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt für eine unabhängige fachliche Untersuchung.
Die Projektinitiatoren von Utopiastadt haben immer mehr versprochen als gehalten. Von Beginn an kam es zu einer Verschränkung der verantwortlichen Gründer und von Akteuren aus Politik, Wissenschaft und Verwaltung. Die vielfältigen Anstrengungen von Ehrenamtlichen wurden missbraucht, um ein schönes Bild für die Öffentlichkeit herzustellen. Von Beginn an gab es kein unabhängiges Finanzcontrolling, keine ordentliche Bauaufsicht und keine sichtbaren Effekte für die Stadtentwicklung. Ob die gewährten Fördermittel korrekt verwendet wurden, ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht nachvollziehbar, das müssen das Finanzamt und die Bezirksregierung untersuchen, denn die Stadtverwaltung verweigert alle Auskünfte. Ob das Projekt Utopiastadt nur eine Hülle für persönliche Interessen ist, kann man mindestens vermuten. Ob Korruption vorliegt, muss durch eine Analyse der Geldströme geklärt werden. Und heute, am 24. August 2021, gibt es genug Anhaltspunkte dafür, dass das Gebäude wegen mangelhafter oder nicht durchgeführter Reparaturen und fehlender Bauaufsicht so marode ist, dass Gefahr für Leib und Leben besteht.
Utopia. Der „Nicht-Ort“. Nicht vorhanden, außer in den Köpfen. Auch: Der Gegenentwurf zur existierenden Gesellschaftsordnung, der „Gute Ort“.
Utopiastadt Wuppertal. Ein Ort, der nicht hält, was er sein sollte. Aber in den Köpfen ist Utopiastadt perfekt, eine Projektion, die so schön ist, dass bislang niemand wagt auszusprechen, was jeder sehen kann.