Ich lasse das Leben auf mich regnen. Ein Theaterabend auf der INSEL

18. Juni 2024 , Dr. Christine Leithäuser


Eine leichte, graziöse Gestalt, von zarten und vollen Gliedern; das Antlitz, von reichem Haar umflossen, verkündigte geistige Überlegenheit, ein leidender Ausdruck lieh den klaren Gesichtszügen eine sanfte Anmut. Sie bewegte sich in dunkler Bekleidung fast schattenartig, aber frei und sicher. Was mich aber am überraschendsten traf, war die klangvolle, weiche Stimme, die aus der Mitte ihrer Seele zu kommen schien, und das wunderbarste Sprechen.

Am 13. Juni 2024 ließen Annette Daugardt und Uwe Neumann in den Räumen der INSEL an der Wiesenstraße eine Persönlichkeit wieder aufleben, die nicht nur für ihre Zeit außergewöhnlich war.

Rahel Levin Varnhagen, geboren 1771, verstorben 1833, passte in keine Kategorie. Als Tochter eines Bankiers und Juwelenhändlers erhielt sie Privatunterricht, lernte moderne Sprachen und bereiste Europa. Als Frau und Jüdin war es ihr gleichzeitig verwehrt, einen Beruf zu ergreifen oder eine akademische Ausbildung zu absolvieren.

Die Rolle als Ehefrau im Schatten eines Mannes lag ihr nicht. Sie korrespondierte mit 268 Personen ihrer Zeit, war Gastgeberin für Intellektuelle, Adlige und Studenten in ihrer Dachstube in Berlin. Sie heiratete erst spät und aus Liebe.

Die Spannung zwischen Neugier auf die Welt und erzwungener Außenseiterrolle spiegelt sich in ihren Briefen und Tagebucheinträgen. Annette Daugardt spielt Rahel, akzentuiert, feinsinnig, klar. Keine einfache Rolle, diese Texte zum Leben zu erwecken. In ungefähr chronologischer Reihenfolge erfährt man von Liebschaften, Enttäuschungen und tiefer Verletzung. Der Zuschauer sieht auf der Bühne eine Frau, in deren Gesicht sich Abscheu und Zorn spiegeln, Verzückung, Zärtlichkeit und Einsamkeit. Die tanzt und einen imaginären Partner in den Armen hält. Die gebannt ist, während sie zuhört.

Uwe Neumann spielt die Männer in Rahel Varnhagens Leben. Auch seine Darstellung der verschiedenen Charaktere geht über das Rezitieren von Briefen weit hinaus. Er lebt als junger Schwärmer, verbitterter Poet und hämischer Antisemit. Als Medizinstudent schildert er Rahel im Jahr 1793 seine Begegnung mit Goethe:

In Weimar hat uns Goethe nicht zwei Minuten warten lassen. Das Erste, was mir an ihm auffiel und Sie zu wissen verlangen, war seine Figur. Er ist von weit mehr als gewöhnlicher Größe, dick und breitschultrig. Die Stirn ist außerordentlich schön, in seinen Augen ist viel Geist, aber nicht das verzehrende Feuer, wovon man soviel spricht. Unter den Augen hat er schon Falten und ziemlich beträchtliche Säcke; überhaupt sieht man ihm das Alter von 44 bis 45 recht eigentlich an. Der Mund ist sehr schön, klein, und außerordentlicher Biegung fähig; nur entstellen ihn, wenn er lächelt, seine gelben, äußerst krummen Zähne. Die ganze Aufnahme war sehr höflich, ziemlich kalt und allgemein, aber viel wärmer als ich sie erwartet hatte.

Man merkt es schon, dieses Stück ist keine trockene Literaturgeschichte.

Aus Rahels Antwort: Wenn meine Mutter gutmütig und hart genug gewesen wäre, und sie hätte ahnen können, wie ich werden würde, so hätte sie mich bei meinem ersten Schrei in hiesigem Staub ersticken sollen. Ein ohnmächtiges Wesen, das immer zu Hause sitzen soll, und das Himmel und Erde, Menschen und Vieh gegen sich hätte, wenn es weg wollte- und das doch Gedanken hat, wie ein anderer Mensch- das wenn´s Bewegungen macht, die merklich sind, Vorwürfe aller Art verschlucken muss, die man ihm aus Vernunftgründen macht; weil es wirklich nicht vernünftig ist zu schütteln, denn fallen die Gläser, die Spinnrocken, die Flore, die Nähzeuge weg, so stürzt alles ein…..Hören Sie aber um Gottes willen nicht auf, mir unbedingt von der Schönheit der Orte zu schreiben und bleiben Sie überhaupt sich gleich, wo möglich!

Das Schreiben und Lesen sind die Fenster zur Welt für eine Frau, die zwar ökonomisch abgesichert ist, ihre intellektuellen Gaben aber kaum entfalten darf. Neben der Korrespondenz pflegt sie den persönlichen Austausch. Von 1793 bis 1808 kamen im Dachgeschoss ihres Elternhauses Dichter, Politiker, Naturforscher, Schauspieler, Adlige und Reisende zusammen. Die Gebrüder von Humboldt, Ludwig Tieck, Friedrich von Gentz, Prinz Louis Ferdinand, Friedrich Schlegel waren darunter. Das Haus liegt in der Jägerstraße, in direkter Nachbarschaft zum Gendarmenmarkt, der Börse, dem Theater und der französischen Gemeinde.

Die Darstellung auf der Bühne fasziniert allerdings gerade nicht wegen der großen Namen. Es sind die so deutlich hervortretenden Gefühle und Charaktereigenschaften, die Lebendigkeit des Spiels und die verblüffenden Textsequenzen, die Annette Daugardt zusammengestellt hat.

So enthüllen nur wenige Zeilen des Grafen Karl von Finckenstein an seine Verlobte Rahel, wie aus überbordender Schwärmerei gleichzeitig die Feigheit spricht, sich zu ihr öffentlich zu bekennen.

Mein liebster einzigster Engel … wenn ich das Datum ansehe, und denke, dass es vielleicht nur noch drei Wochen sind, bis ich dich wiederhab, so mache ich oft einen Luftsprung…
Meine liebste, beste Kleine, Gott weiß, wann ich nach Berlin komme, ich kann es nicht wissen…und es wird schwer, so für einen Sprung nach Berlin zu kommen. Warum sind mir so durch Liebe die Hände gebunden? Durch die Menschen, denen ich Liebe schuldig bin, weil sie mich zuerst liebten. Du weißt, wie sehr meine Schwestern an mir hängen, du weißt, dass sie, besonders Karoline, meine erste Liebe waren. Du weißt, dass es Karoline gewiss nicht überleben würde, wenn ich sie verließe.

Rahel antwortet direkt auf das Unausgesprochene seiner Zeilen: Du sagst, Du kannst nichts für mich tun? – Du willst doch, ich soll Dir die Wahrheit sagen; nun, so will ich sie Dir einmal auf der Stelle sagen – Du hast den Mut nicht, etwas für mich zu tun. Es gäbe kein Mittel, keine Ursache von einem simplen Besuch wegzubleiben? … Ich überlasse mich nun ganz der Welt, den Umständen, und sollte ich in dieser Welt wahnsinnig werden. Das werde ich aber nicht. Ich werde die Jahre, die du weg bist, dazu anwenden, unbekannt mit dir zu werden. Überreden kannst du mich nicht mehr. Sei etwas, und ich werde dich erkennen. Erschrecke nicht über diesen Brief, überdies hast du ihn selbst komponiert. Es war der letzte Akkord eines üblen Konzerts.

Eine arrangierte Ehe mit einem entfernten Verwandten lehnte Rahel ab, ihre zweite Liebesbeziehung geht in die Brüche. Erst 1808, als Rahel August von Varnhagen wiedersieht, findet sie einen Menschen, mit dem sie leben kann. Von diesem Moment an wird er zu ihrem treuen Bewunderer und Begleiter und dies umso mehr, als sich ihre einstigen Bekannten von ihr abwenden. Varnhagen ist 24 Jahre alt, Rahel 38. Sie wollen heiraten, sobald er sein Studium beendet und sie beide ernähren kann. Mit der Besetzung Berlins durch Napoleon im Jahr 1806 hat sich der Kreis um Rahel aufgelöst. Preußen erklärt 1813 Napoleon den Krieg. Rahel flieht für ein Jahr nach Prag und sammelt dort Geld für die Versorgung und Pflege verwundeter Soldaten. Gleichgültig aus wessen Heer.

Sie schreibt: Krieg überschüttet Europa und wer ist gesichert? – Diese Kerle mit Manschetten!

Nicht genug, dass sie isoliert wird, mit den veränderten politischen Verhältnissen tritt immer deutlicher ein widerwärtiger Charakterzug bei Rahels Bekannschaften zutage: Hass auf das Judentum.

Clemens Brentano schreibt ihr: Jetzt wird es aber doch wohl heraus müssen, was sich mir immer aufdrängt, als der innere Grund alles Unschönen in Ihnen: Betrachte ich Sie, im Judentum geboren, mit ungemeinen Talenten dem Umgange der interessantesten und witzigsten Gesellschaft preisgegeben, in unendlicher Entwicklung des Verstandes, aber mit einem Herzen, das nur von sich selbst lebt und nur von der Natur, wenn ich Sie also so betrachte, so meine ich immer, dass Ihnen eine innere Heilung aus göttlichen Quellen fehlt, die unsichtbare Taufe, das unsichtbare Abendmahl, das unsichtbare Christentum, das allein den Menschen schön und liebenswürdig macht.

Uwe Neumann spielt diesen Brentano als überheblichen alternden Star. Das Lachen bleibt dem Zuschauer im Halse stecken. Und einmal mehr stellt man sich die Frage: ist das wirklich ein historisches Stück?

Wir sehen eine mutige Frau, die ihre Gaben nicht frei nutzen darf. Finanziell abhängig von den männlichen Mitgliedern der Familie. Autodidaktin. Mehrsprachig. Eloquent. Mitunter schmerzhaft ehrlich. Wir sehen eine Gesellschaft, die in Kategorien denkt: Geburt, Geschlecht. Geld.

Wilhelm von Humbold an Caroline von Humboldt, Juli 1813: Man sagte mir, dass Varnhagen die kleine Levi nun geheiratet hat. So kann sie noch einmal eine Gesandtenfrau und Exzellenz werden. Es ist nichts, was der Jude nicht erreicht. Für den armen Varnhagen tut es mir leid. Die Levi hat gewiss sehr schätzenswürdige und seltene Seiten von Geist und Charakter, aber ihr Alter, ihre Kränklichkeit, und der ganze Zuschnitt, den sie nun einmal ihrem Leben gegeben hat, sind der Ehe innerlich und selbst äußerlich, und die Sache ganz bürgerlich genommen, entgegen. Ein Mann kann mit ihr nicht anders als insofern unglücklich sein, dass er eine in jeder Rücksicht genugtuendere Wahl hätte treffen können.

Caroline von Humboldt an Wilhelm: Wenn ich was zu sagen hätte, ich ließe sie drei Generationen nicht handeln und alle zwanzigjährigen Jünglinge, ohne irgendeine Ausnahme als die der körperlichen Gebrechlichkeit, wären Soldaten, da wollte ich wetten, dass in 50 Jahren die Juden als Juden vertilgt wären. Und dass das nicht ein Gewinn für die Menschheit wäre, lasse ich mir nicht ausreden, die Juden in ihrer Gesunkenheit, ihrem Schachergeist, ihrem angeborenen Mangel an Mut, der von diesem Schachergeist herrührt, sind ein Flecken der Menschheit.

Wilhelm: Deine Tirade über die Juden, teure Seele, ist göttlich; ich habe Lust, sie Stein mitzuteilen, der ganz deine Ansichten teilt, aber noch viel heroischere Mittel zur Abhilfe vorschlägt, da er die Nordhälfte Afrikas mit ihnen bevölkern will. Ihr mögt beide wohl recht haben.

Hier spricht der Mann, dessen Namen heute Straßen, Gymnasien und Universitäten tragen. Der als Stellvertreter der humanistischen Bildung in Jahresabschlussreden gewürdigt wird. Und im wieder errichteten Berliner Stadtschloss. Fast niemand hinterfragt diese Restauration.

Annette Daugardt ist eine vielseitige Schauspielerin mit Engagements u.a. in Berlin, Luxemburg, Bremen und Hamburg, in Fernsehfilmen und Serien. Uwe Neumann spielte in Berlin, Postdam, Hamburg, Heidelberg und Luxemburg. Er ist ebenfalls in Film- und Fernsehproduktionen sowie als Sprecher im Hörfunk und für Hörbuchverlage tätig. Zusammen realisieren sie mit dem KantTheaterBerlin eigene Produktionen ohne feste Spielstätte. Das Bühnenstück „Rahel – die Wege muss man suchen“ entwickelte Annette Daugardt während eines dreimonatigen Schreibstipendiums. Es ist seit einem Jahr im Programm des KantTheatersBerlin.

Der gemeinnützige Verein INSEL hat die Aufführung in Wuppertal am 13.06. zusammen mit der Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal, dem Katholischen Stadthaus und der Universität Wuppertal ermöglicht. Seit INSEL die Räume über dem Café Ada bespielt, sind sie zum drittgrößten unabhängigen Anbieter kultureller Veranstaltungen in Wuppertal geworden. Mit sehr viel ehrenamtlicher Arbeit und geringem Budget wird ein hochklassiges Programm ermöglicht, das gerne und häufig angenommen wird. Es sind nicht die großen Leuchtturmprojekte, die Verherrlichung von Idolen, die die kulturelle Situation in einer Stadt bestimmen. Angebote wie auf der INSEL ragen heraus, ohne protzig daher zu kommen.

Die Stadt Wuppertal kann stolz auf die freie Kulturszene sein. Sie sollte sie auch adäquat und transparent unterstützen.

Vielen Dank für diesen Abend auf der kulturellen Insel über der Wiesenstraße! Der modernen Dachstube der Rahel Varnhagen.