20. August 2023 , Dr. Christine Leithäuser
Ira Laudin schreibt einen Zeitroman, der in Wuppertal spielt. Die Gelegenheit ist mit dem Lockdown gekommen. Zuhause bleiben zu müssen, war der eine Anstoß für diesen beruflichen Wechsel, die ungeahnt erfolgreiche Teilnahme an einem Literaturwettbewerb der andere. Im Hintergrund die eigene Geschichte: sie war drei Jahre alt, als ihre Familie von Braunschweig nach Wuppertal zog. Seitdem ist sie nicht mehr gegangen.
Die Protagonistin Lissi zieht als Zwölfjährige nach dem Tod ihrer Familie kurz vor Kriegsende zu ihrer Tante Helene auf den Ölberg: „Du teilst dir dieses Bett mit Ursula. Im anderen schlafen der Paul und ich. Der Paul war Ursulas älterer Bruder.“
Zeitsprung: 1979, Lissi ist inzwischen verheiratet und hat eine Tochter. Ihr Mann Johann kommt bei einem Autounfall um. Plötzlich auf sich allein gestellt, weiß sie nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen soll.
Die Romanhandlung springt zwischen diesen zwei Zeitebenen und erzählt jeweils chronologisch von der Nachkriegszeit in Wuppertal und den frühen 80er Jahren: Tauschhandel, der Kampf ums Essen, nicht explodierte Granaten, zerstörte Häuser, der Kohleofen in der Küche, Flüchtlinge und Einquartierte einerseits – der VW Käfer, Schnittchen und Gulaschsuppe, ein Fläschchen Sekt, der Flohmarkt auf der Kaiserstraße, dekorierte Schaufenster am Neumarkt andererseits.
Woher kommt diese Lust am Historischen? „Ich mag diese Stadt so wahnsinnig gern!“ Ira Laudin kennt Wuppertal seit den frühen 80er Jahren aus ihrer eigenen Kindheit. Vernarrt in Bücher war sie schon immer, zu schreiben traute sie sich aber erst mit einem Fundus an Lebenserfahrung. Ihr Atelier für historische Kostüme gab sie nach zwanzig Jahren auf und machte sich ans Werk. Ihr Beitrag in einem Literaturwettbewerb führte dann geraden Weges zur Veröffentlichung. „Der Himmel am nächsten Morgen“ ist am 3. Juli 2023 erschienen.
Man könnte aus der Haut fahren, wie ungeschickt sich diese Lissi der 80er Jahre anstellt. Aber halt: das war ein anderes Deutschland. Keine Globalisierung, kalter Krieg, eine Gesellschaft, die sich nach dem Krieg erst wenig entwickelt hatte. Wer weiß noch, dass erst als Resultat der Studentenbewegung Frauen in Deutschland wirtschaftlich unabhängig vom Ehemann wurden? 1977 erst trat eine Reform des Ehe- und Familienrechts in Kraft. Das Prinzip der Hausfrauenehe wurde durch das partnerschaftliche Prinzip ersetzt. Erst ab dann durfte eine Frau ohne die Einwilligung ihres Mannes ein Konto eröffnen und eine Arbeitsstelle antreten.
Historisch vollkommen richtig ist daher die Rolle der Protagonistin. Ihr gelingt aus der Not heraus im Laufe von zwei Jahren eine späte Emanzipation. Sie arbeitet als Buchhändlerin, macht den Führerschein und findet in ganz kleinen schüchternen Schritten eine zweite Liebe. Georg. Ihre Tochter Miriam ist dabei keine große Hilfe. Meist patzig und egozentrisch, verkörpert sie die Generation, die während des „Wirtschaftswunders“ geboren wurde und den Komfort in der sanierten Etagenwohnung, die Lissi von ihrer Tante Helene übernommen hat, als selbstverständlich ansieht.
Dritte Zeitebene: August 2023. Ira Laudin sitzt mir im Katzengold gegenüber. „Ich habe die einzelnen Szenen direkt vor mir gesehen.“ „Der Büchermarkt der Tafel ist eine ganz wunderbare Fundgrube für Zeitzeugen-Berichte.“ „Mit anderen Autoren tausche ich mich aus. Wir rezensieren uns gegenseitig.“ „Eigentlich wollte ich schon immer Schriftstellerin werden. Jetzt, mit der entspechenden Lebenserfahrung, habe ich diesen Schritt gemacht. Es war einfach die richtige Zeit dafür.“
Bei aller Leidenschaft für das Schreiben, fällt ihr Stil erstaunlich nüchtern aus: Der Leser als Kameraauge: „Die Luisenstraße bot einen traurigen Anblick, es standen nur noch wenige Gebäude. Die Wand eines Wohnhauses fehlte. Von der Straße aus waren alle Zimmer zu sehen wie in einer übergroßen Puppenstube. Der Junge stand mit seinem blechernen Eimer auf einem Hügel verstreuter Ziegel.“
Es ist ein neutraler Erzähler, der die Szenerie und die Handlung beherrscht. Es könnte Lissi sein oder jeder andere, der gerade in dieser zerstörten Straße steht. Die Außensicht sich überstürzender dramatischer Ereignisse ersetzt die Schilderung von Emotionen. „Die einzige Glühbirne an der Wand flackerte und erlosch. In diesem Moment stürzte vor ihr die Kellerdecke herunter.“
Welches Grauen muss die Zwölfjährige empfunden haben.
Ira Laudin entspricht nicht unserem Zeitgeist als Erzählerin. Auch nicht dem Genre des Zeitromans. Ein Geplappere wie im „Kunstseidenen Mädchen“ von Irmgard Keun, zerrissene Erzählebenen und permanente Innensicht wie bei „Berlin Alexanderplatz“, eigentlich die Merkmale des „modernen“ Erzählens, bietet sie gerade nicht. Warum?
„Ich wollte einfach die Geschichte erzählen. Ein Buch schreiben, das auch ohne Literaturstudium verständlich ist.“ Hintereinander weg werden die Geschehnisse aus Lissis Leben wie am Schnürchen präsentiert. Mit dem einen Kunstgriff, dass mit jedem neuen Kapitel die Zeitebene verspringt. Man taucht ganz ein in diese fremde Welt und hat Lissis Bilder im Kopf. Bis man aufsteht, den Neumarkt heute betrachtet und nachschaut, ob nicht irgendwo ein verbeulter VW Käfer vorbeifährt.