Ich habe über Deutschland immer gedacht, das ist ein Rechtsstaat!

14. Februar 2021 , Dr. Christine Leithäuser


Fast zwanzig Prozent der Wuppertaler sind Türken. Eine davon ist Serife Temizsoy. Als Zwölfjährige zog sie, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen, mit ihrer Mutter und ihren zwei Brüdern aus Zentralanatolien hierher, zu ihrem Vater und ihrem ältesten Bruder. Heute ist sie Inhaberin eines Friseursalons, verheiratet, Mutter eines Sohnes, deutsche Staatsbürgerin. Das ist ihre Geschichte.


Von Anatolien nach Deutschland

„Ich wurde 1968 in der Provinz Nevsehir, in Ürgüp, geboren. Die Gegend kennt man eher unter dem Namen Kappadokien, wegen der berühmten Tuffsteingebirge. Mit dem Tourismus hatten wir unmittelbar aber nichts zu tun, unsere Familie lebte in einem Dorf. Mit den Tanten und Onkeln teilten wir ein gemeinsames Haus. Ich war zwei Monate alt, als mein Vater wegen der Arbeit nach Wuppertal zog. Er schickte Geld, von dem wir später ein eigenes Haus bauten. Nur einmal im Jahr kam er zu Besuch und ich kann mich noch erinnern, dass ich dachte, was macht denn der fremde Mann hier, warum schläft er in unserem Zimmer?“

Ihre Kindheit spielt sich im Dorf ab, auf den Feldern mit Getreide und Gemüse, im Obstgarten und bei den Tieren im Stall. In Ürgup, achtzehn Kilometer entfernt, kauft man ein, was es im Dorf nicht gibt. Der älteste Bruder geht dorthin zur Schule. Die Welt außerhalb, das waren Touristen in Kleinbussen, auf dem Weg zu den Sehenswürdigkeiten. Sie und ihre jüngeren Brüder winkten diesen Leuten gerne zu.

Dann bekommt der ältere Bruder Schwierigkeiten und zieht zum Vater. Er hatte sich etwas zu sehr für Politik interessiert. Serife weiß bis heute nicht, was in den politischen Heften stand, die sie heimlich ihrem Dorflehrer von ihrem Bruder mitbrachte. Plötzlich steht eine weitere Entscheidung an: Im Jahr 1980 ändern sich die Aufenthaltsbestimmungen für Türken in Deutschland.

Der Beschluss 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei vom 19. September 1980 regelte das Aufenthaltsrecht der türkischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen neu. Sie und ihre Familienangehörigen konnten sich erstmals – wenn sie ununterbrochen und legal vier Jahre lang in Deutschland gearbeitet hatten – auf jede frei werdende Arbeitsstelle bewerben. Damit verbunden war dann eine langfristige Aufenthaltserlaubnis sowohl für die Arbeitnehmer als auch für ihre Familien.

„Mein Vater musste sich sehr schnell entscheiden, auszureisen oder uns nachzuholen. So sind wir dann innerhalb von einer Woche nach Wuppertal umgezogen. Zuerst haben wir in der Südstadt gewohnt, ich weiß noch, wie ich mit meinem jüngeren Bruder am Fenster saß und die Leute auf der Straße beobachtet habe. Wir haben ihnen zugewinkt, sie haben zurückgewinkt. Und ich hatte auch viel Glück: Im Vorderhaus wohnte Frau Burkhardt, sie betreute ihre betagte Mutter und ihren Mann, der schon im Rollstuhl saß. Sonntags holte sie mich in ihre Küche und brachte mir das Backen bei. Ich bin auch häufig mit ihr zum Einkaufen gegangen und sie hat Eis spendiert.“

Ihre erste deutsche Schule liegt recht entfernt, in Oberbarmen. Sie und ihr zwei Jahre älterer Bruder absolvieren dort einen einjährigen Sprachkurs. Also geht es jeden Tag mit der Straßenbahn hin und zurück, zusammen mit anderen türkischen Kindern. Sie müssen alles allein organisieren, das gelingt auch. Denn die Gruppe hält zusammen, mindestens einer versteht, was die Lehrer wollen, und erklärt es dann den anderen. Zum Teil halten diese Freundschaften heute noch. Die Mutter hingegen bleibt zuhause, der Vater ist tagsüber bei der Arbeit. Serife und ihr Bruder besuchen danach die Hauptschule in Vohwinkel und machen beide dort den Abschluss. Sie finden keine deutschen Freunde. Auf dem Schulhof bleibt jede Gruppe für sich. Die paar Türken in der Klasse werden von den anderen ignoriert. Sie finden keine Wärme. Und viel Zeit, um ihren Vater richtig kennen zu lernen, bleibt ihnen auch nicht. Er stirbt in dem Jahr, in dem sie die Schule beenden.


Ich habe den Geruch der Friseursalons immer gemocht

„Als ich mit der zehnten Klasse fast fertig war, hat Frau Burkhardt gesagt, wir müssten jetzt überlegen, welche Ausbildung ich anfange. Sie ist mit mir die Friedrich-Ebert-Straße `rauf und `runter gegangen und wir haben in jedem Friseursalon gefragt, ob sie eine Auszubildende brauchten. Das erste Jahr nach der Schule habe ich dann in einem Salon als „Mädchen für alles“ gearbeitet und 200 Mark im Monat dafür bekommen.“

Damals begann die Liebe für das Friseurhandwerk, trotz der widrigen Umstände. Der erste „Arbeitgeber“ ist nach einem Jahr insolvent und die Suche nach einem Ausbildungsplatz beginnt von Neuem. Nach mehreren Stationen aber ist die Lehre abgeschlossen, inklusive einer kaufmännischen Ausbildung an der Abendschule. Serife wird in einem Salon angestellt und ist glücklich.

Aber dann hat ihr Bruder eine Geschäftsidee, für die er die Familie in Anspruch nimmt: Er will einen Lebensmittelladen am Ölberg betreiben. Da er noch studiert, solle Serife als Eigentümerin firmieren. Sie ist todunglücklich, erhält aber in der Familie keine Unterstützung für ihren Wunsch, weiter als Friseurin zu arbeiten. Die Frauen machen, was die Männer sagen. Und der Laden läuft gut, die gesamte Familie arbeitet mit. Von früh bis spät.

Bis das Finanzamt bei einer Buchprüfung herausfindet, dass der Bruder jahrelang Rechnungen falsch deklariert hat. Das Geschäft wird geschätzt und eine Nachzahlung samt Strafe verhängt. Die Geschäftsimmobilie, die die Familie gemeinsam erworben hat, ist auf den Bruder eingetragen. Aber dieser setzt sich ab und schiebt Serife die Verantwortung für die Schulden zu. Schließlich sei sie ja die Eigentümerin des Geschäftes. Und so hält das Finanzamt an den Forderungen fest. Sie versuchen jahrelang, die Steuerschuld zu begleichen, aber die laufenden Einnahmen reichen dafür nicht aus. Schließlich drückt ihr vor der Tür des Amtes jemand die Adresse einer Beratungsstelle in die Hand und erklärt, dass es einen Ausweg aus der Schuldenfalle gibt. Und dann vergehen weitere sechs Jahre, bis das Insolvenzverfahren abgeschlossen ist.


Mustafa

„Wir haben ein halbes Jahr nur telefonieren können. Du kennst das ja, diese Telefonzellen, wo die Geldstücke nur so durchfallen, wenn du mit der Türkei sprichst. Den nassen Geruch nach Telefonbuch, Metall und Zigarettenkippen. Bis ich alle Papiere zusammen hatte, die belegten, dass Mustafa kein Sozialhilfefall wird, bis das Konsulat das Visum erteilt hat, verging viel Zeit. Einen Tag nach seiner Ankunft, das war ein Sonntag, hat er gleich im Laden mitgearbeitet.“

Ihren Ehemann findet Serife über die Vermittlung von Freunden und Verwandten im Dorf. Eigentlich kannte sie ihn schon, vom Sehen, weil auch er in den Ferien dort seine Leute besuchte. Als sie anfangen, miteinander auszugehen, wird schnell klar, dass sie zusammen gehören. Sie heiraten, Serife ist 23. Damit Mustafa eine Aufenthaltserlaubnis bekommt, muss sie in Deutschland für ihn bürgen. Bis sie die notwendigen Formulare ausgefüllt hat, bis die Nachweise eingereicht und überprüft sind und bis er die Reise zum 350 km entfernten Konsulat nach Ankara zwei Mal mit dem Überlandbus gemacht hat, vergeht ein halbes Jahr. Kaum in Wuppertal angekommen, wird er in das Familienunternehmen am Ölberg integriert. Zu dem Zeitpunkt ist noch niemandem bewusst, dass der Bruder ein falsches Spiel treibt.

Aber auch in der schwierigen Situation halten sie zusammen. Nach der Abwicklung des Ladens sorgt er für das Familieneinkommen, er arbeitet als Lagerist. Ein Sohn wird geboren, Ahmed Khan. Bei der Einschulungsfeier in der Grundschule trifft Serife durch Zufall eine alte Bekannte aus dem Sprachkurs wieder, Leyla. Ihre Söhne gehen in dieselbe Klasse. Leyla betreibt einen Friseursalon an der Hofaue und so geht es wieder los mit dem geliebten Handwerk. Serife hilft aus, wenn es nötig ist und zieht Ahmed Khan groß. Er macht das Abitur am Gymnasium Siegesstraße und studiert danach in Aachen. Dann taucht wieder der Bruder mit neuen Ansprüchen auf. Sie sollen nun Miete zahlen für die Wohnung in dem ehemals gemeinsamen Haus. Das ist der letzte Auslöser für den Bruch. Statt weiter für den Bruder zu zahlen, zieht sie mit Mustafa nach Unterbarmen. Und beginnt, über einen eigenen Salon nachzudenken.


Endlich selbstständig

Im Herbst 2015 ist es soweit. Sherry Style in der Blumenstraße wird eröffnet! Der Weg bis dahin war nicht leicht. Zuerst musste ein geeignetes Lokal gefunden werden. Viel Vorsicht war geboten. Denn wenn jemand seinen Salon weiterverkauft, will er nicht nur für das Mobiliar sondern auch für den Kundenstamm eine Ablösesumme. Es gibt keine Garantie dafür, dass der ehemalige Inhaber nicht hinter dem Rücken des neuen Eigentümers die Kunden kontaktiert und auf seinen neuen Salon umlenkt. Auch die Ausstattung und die Größe müssen passen, sonst sind die Fixkosten zu hoch.

Die Verhandlungen ziehen sich also in die Länge. Dazu kommt das Problem mit der Bank. Ein KfW-Kredit für Existenzgründer wird immer durch die Hausbank vermittelt. Sachbearbeiter wechseln. Sie haben kein Verständnis für die praktischen Anforderungen an das Geschäftslokal. Als endlich ein geeigneter Salon zur Übernahme bereit steht, fehlt immer noch der Kredit. Der Inhaber droht, anderen Interessenten den Vorzug zu geben. In diesem Moment passiert etwas Unerwartetes. Eine glückliche Wendung: Eine langjährige Kundin streckt das Geld vor. Einfach so.

„Ich habe das meiner Familie im Dorf erzählt, dass jemand ganz anderes geholfen hat und mein eigener Bruder nicht. Ich bekomme immer noch Gänsehaut, wenn ich daran zurückdenke. Sie sagte einfach: Gib mir mal deine Kontonummer.“

Seit jenem Herbst also hat Serife ihren eigenen Salon. Ihren Traum verwirklicht. Es dauerte ein paar Monate, den eigenen Kundenstamm aufzubauen. Natürlich hatte der Vorgänger seine alte Kundendatei mitgenommen. Aber die schweren Tage sind vorüber. Im Jahr 2020 hat Serife so viel Zuspruch, dass sie bereits den zweiten Auszubildenden einstellt. Seine Schwester ist bei ihr im dritten Lehrjahr. Beide sind mit ihrer Familie aus Syrien geflüchtet. Die meisten Kundinnen sind übrigens ältere deutsche Damen aus dem Viertel. Ein liebevoller Plausch gehört immer dazu.

Und dann kommt der erste Lockdown. Das ging noch so gerade eben. Der zweite Lockdown aber droht, das mühsam Erreichte wieder kaputt zu machen. Die „staatlichen Hilfen“ kommen entweder nicht fristgerecht an oder müssen zurückgezahlt werden. Die Fixkosten aber laufen weiter. Jeden Monat. Der Einkommensverlust wird überhaupt nicht kompensiert. Für jeden Antrag auf Unterstützung muss die Steuerberaterin eingeschaltet werden, die dafür ein Honorar fordert. 500 bis 1000 Euro sind das jedesmal. Eigentlich ist das „Hilfsprogramm“ eine Subvention für Steuerberater. Serifes guter Glauben an den deutschen Staat leidet sehr unter diesen Umständen. Erst vor wenigen Jahren hat sie die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt und erhalten.

„Ich dachte immer, der deutsche Staat, der ist besser. Das ist ein Rechtsstaat.“ Jetzt ruiniert dieser Rechtsstaat ihre Existenz.