„ASS-Skandal heißt es sicherlich zu Recht“ (Richterin Bittner)

23. Juli 2021, Dr. Christine Leithäuser


Der wegen übler Nachrede angeklagte ehemalige Rechtsdezernent Panagiotis Paschalis wird am 22. Juli 2021 vor dem Amtsgericht Wuppertal für schuldig befunden. Gleichzeitig erklärt Richterin Bittner, dass die angezeigten Vorgänge in der Stadtverwaltung sehr wohl ein „Skandal“ sind. Eindrücke und Zitate vom letzten Prozesstag.

Wie ein Mahnmal steht ein unausgepackter Karton mit Akten auf dem Richtertisch. Nachdem das Hochwasser das Amtsgericht Wuppertal zum kurzfristigen Umzug ins Amtsgericht Mettmann gewungen hatte, wurde an diesem Donnerstag ein lang andauernder und komplexer Prozess nach fast zwanzig Verhandlungstagen geradezu im Galopp beendet. Nur wenige Minuten lang verlas Richterin Bittner, welche weiteren Akten zur Beweiserhebung herangezogen werden. Diese stammen aus dem ungeordneten Konvolut von drei Umzugskartons, die die Stadt erst auf Androhung gerichtlicher Maßnahmen im Mai diesen Jahres ans Amtsgericht übersandte. Dann schließt sie die Beweiserhebung und fordert nacheinander die Staatsanwältin und den Strafverteidiger auf, ihre Plädoyers zu halten.


Anklage und Verteidigung

Erstere verliest mit zitternder Hand und Stimme einen Text. Dabei geht sie kursorisch auf einzelne Zeugenaussagen ein und bekräftigt wie erwartet die Forderung, den Angeklagten schuldig zu sprechen. Wegen übler Nachrede in zwei Fällen solle er zu einer Geldstrafe, die noch einmal erheblich über der ursprünglichen Summe des von ihm abgelehnten Strafbefehls liegt, verurteilt werden. Panagiotis Paschalis hatte in einer an den Staatsanwalt gerichteten Strafanzeige und in einem Zeitungsinterview den Begriff „Unrechtsvereinbarung“ verwendet und eine Gruppe von Personen benannt, die nach seiner Einschätzung Teil dieser Unrechtsvereinbarung waren. Die Staatsanwältin fasst diese Äußerung als Tatsachenbehauptung auf, die sowohl unwahr als auch rufschädigend für die Genannten sei. Wegen der fortgesetzten Uneinsichtigkeit des Angeklagten, der seine Rechtsauffassung vor Gericht sogar noch wiederholte, müsse das Strafmaß höher ausfallen. Denn es gebe keinerlei Anhaltspunkte für eine Unrechtsvereinbarung innerhalb der Stadtverwaltung.

Insgesamt ist ihr Habitus emotional, so wie schon an anderen Prozesstagen zu erleben, als sie z.B. mit dem Finger auf Panagiotis Paschalis deutete und laut verlangte „der da, der Angeklagte, der soll das lassen“ als dieser schmunzelte. An diesem Donnerstag gibt sie dem Verteidiger noch mit auf den Weg, auch er solle sein Verhalten vor Gericht einmal überdenken.

Das folgende Plädoyer des Verteidigers war frei gehalten und begann mit einem Zitat aus Goethes „Faust“. „Wer darf das Kind beim rechten Namen nennen? // Die wenigen, die was davon erkannt, // Die töricht gnug ihr volles Herz nicht wahrten, // Dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen offenbarten, // Hat man von je gekreuzigt und verbrannt.“ (Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, Vers 589 ff.). Seiner Ansicht nach habe sein Mandant vollkommen zu Recht den Begriff der Unrechtsvereinbarung genutzt, da eine solche auch stattgefunden hatte. Die nun drohende Verurteilung sei ein Versuch, ihn öffentlich zu diskreditieren und mundtot zu machen, da er sich mit einer mächtigen Clique aus der Stadt angelegt habe. Er wirft der Staatsanwältin vor, die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes und des Bundesverfassungsgerichtes zu ignorieren und stattdessen zu „glauben, dass die Macht keine Fehler macht“. Sie stütze sich auf „alternative facts“ und stehe vermutlich mit Verantwortlichen in der Stadtverwaltung in direkter Verbindung, deren Sprachrohr sie sei.

Nach diesem Schlagabtausch, der ebenfalls nicht der erste im Prozessverlauf war, ging der Verteidiger auf die wesentlichen Punkte, warum sein Mandant freizusprechen sei, ein. Das sogenannte „ASS-Geschäft“ sei illegal gewesen. Es bestand daraus, dass das nicht zuständige Straßenverkehrsamt über zehn Jahre lang Autos einer Leasing- Firma aus Bochum in Wuppertal zugelassen habe. Diese Firma bekam auf der Grundlage von Scheinrechnungen angebliche Werbeleistungen für die Stadt Wuppertal erstattet, die sie nicht wie vereinbart erbrachte. Die Vertragserfüllung wurde nicht von der Wuppertal Marketing Gesellschaft kontrolliert oder angemahnt, die für die Abwicklung zuständig war. Auch wurde der Werbeauftrag nie ordentlich ausgeschrieben. Entgegen haushaltsrechtlicher Bestimmungen habe der Kämmerer der Stadt die Zahlungen an die Bochumer Firma persönlich in jedem Fall per Unterschrift legitimiert. Weder das Rechnungsprüfungsamt noch der Oberbürgermeister hätten diese Vorgänge beanstandet oder gar die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen. Aus diesem Grund habe sein Mandant Strafanzeige gestellt und sich in der Presse geäußert. Tatsache sei, dass der Stadt Wuppertal duch dieses Handeln der Stadtverwaltung ein vom OLG Hamm festgestellter Schaden von über 700 000 Euro entstanden ist, der wegen Verjährung nur noch in Höhe von rund 240 000 Euro gerichtlich geltend gemacht werden konnte.

Die Strafanzeige durch Panagiotis Paschalis sei zudem als eine privilegierte Äußerung zu werten. Das sind Äußerungen, die der Rechtsverfolgung oder -verteidigung in einem behördlichen Verfahren dienen oder die im Vorfeld einer gerichtlichen Auseinandersetzung erfolgen und nicht der Strafverfolgung unterliegen. Ob das Vorbringen wahr und erheblich ist, soll allein die Behörde klären, der gegenüber die Äußerung gemacht wird. Wäre die Strafanzeige rechtswidrig gewesen, hätte der Staatsanwalt den Anzeigenden wegen falscher Verdächtigung nach § 164 StGB zur Verantwortung ziehen müssen. In der Presse schließlich habe sein Mandant persönliche Schlussfolgerungen aufgrund einer hinreichenden Verdachtslage gezogen. Damit seien seine Aussagen in der Presse Rechtsauffassungen, die durch Artikel 5 Grundgesetz, die Meinungsfreiheit, geschützt sind.


Das Urteil

Nach einer kurzen Pause eröffnet die Amtsrichterin um 11.20 Uhr das Urteil. Sie befindet Panagiotis Paschalis der üblen Nachrede in zwei Fällen für schuldig und verhängt eine Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu 150 Euro. Die folgende mündliche Begründung ist überraschend:

Dass es im Rahmen des „ASS-Geschäftes“ kriminelle Absprachen zwischen den in der Strafanzeige genannten Personen gegeben habe, sei eine Tatsachenbehauptung, die jedenfalls in einem Fall unwahr wäre und damit falsch. Der ehemalige Oberbürgermeister Mucke wurde erst im Jahr 2015 gewählt, erhielt erst im Jahr 2016 Kenntnis von den Vorgängen und trage keine Verantwortung für die rechtswidrige Praxis, die ab dem 1. März 2007 stattgefunden habe.

Sie erläutert danach, dass man zu Recht von einem „ASS-Skandal“ sprechen könne: Nachdem der erste befristete Vertrag zwischen der ASS und der Stadt Wuppertal über die Anmeldung der Autos ausgelaufen war, wurde dieser ohne rechtliche Grundlage weiter geführt. Es wurden zu wenige Werbe-Aufkleber hergestellt, sodass die Stadt Wuppertal tatsächlich an die ASS Zahlungen ohne Gegenleistung anwies. Es fehlte die örtliche Zuständigkeit für die Anmeldungen der Fahrzeuge und die haushaltsrechtliche Behandlung der Geldflüsse könne man nur als „ungewöhnlich“ bezeichnen. Wegen des Umfangs der Leistungen war der Vorgang auch vergaberechtlich sehr problematisch. Ihre Zustimmung hätten sowohl der Kämmerer als auch der Hauptausschuss und der Rat der Stadt erteilt. Wer an diesen Vorgängen aber die Schuld trage, sei nicht Gegenstand dieses Verfahrens und wahrscheinlich wegen Zeitablaufs und der unterschiedlichen Rechtsauffassungen des Rechtsamtes und des Rechnungsprüfungsamtes nur noch unzureichend aufklärbar.

Jedenfalls habe sie bei der Prüfung der Unterlagen und Zeugenaussagen keine Anhaltspunkte für eine Unrechtsvereinbarung unter der Beteiligung des ehemaligen OB Mucke gefunden: Obwohl der Kämmerer Dr. Slawig die Zahlungen an die ASS weiterführen wollte, habe Mucke diese untersagt. Auch habe er die Kompensationsforderungen des Kämmerers für die fehlenden Anmeldegebühren nicht unterstützt. Daher könne er nicht Teil einer kriminellen Absprache sein. Der Bericht des Rechnungsprüfungsamtes vom 19.08.2016 enthalte sehr wohl auch kritische Bemerkungen, z.B. werde von einer rechtswidrigen Zulassung durch das Straßenverkehrsamt gesprochen und von Pflichtverletzungen der Wuppertal Marketing Gesellschaft. Da das Amt aber keine Veranlassung zur Strafverfolgung sah, habe der OB damals auch keine Strafanzeige stellen müssen. Im weiteren Verlauf habe Herr Mucke jeweils getan, wozu ihm vom Rechtsamt und von externen Beratern wie Prof. Beckmann geraten worden sei. Schließlich sei er auch kein Jurist und müsse sich auf die Fachleute verlassen. Nach einer Beratung durch die Bezirksregierung habe er im Februar 2017 Strafanzeige beim Landeskriminalamt gestellt. Die Tatsache, dass Herr Mucke zeitweilig die Aufsichtsratssitzung der Wuppertal Marketing Gesellschaft Ende 2016 verließ, sodass der Geschäftsführer Martin Bang ohne Gegenstimme entlastet werden konnte, spreche auch nicht gegen den ehemaligen OB. Er habe sich in einem Interessenskonflikt befunden, den er durch sein Fernbleiben von der Abstimmung gelöst habe.

Aus diesem Verhalten könne man insgesamt ablesen, dass Herr Mucke sehr wohl ein Interesse an der Aufklärung des ASS-Skandals gehabt habe und weder Teil von kriminellen Absprachen gewesen sei noch Vertuschung betrieben habe, wie Panagiotis Paschalis in seiner Strafanzeige behauptet hatte. Damit habe der Angeklagte die Grenze zur Meinungsfreiheit überschritten und vorsätzlich eine falsche Tatsachenbehauptung aufgestellt. Daher sei er zu verurteilen.

Danach wird auch Richterin Bittner persönlich. Sie bemerkt, dass Panagiotis Paschalis mit all seinen Strafanzeigen und Gerichtsverfahren gescheitert sei. Auch wäre er nicht wegen des ASS-Skandals abgewählt worden, sondern wegen der Art und Weise seiner Kommunikation. Ihr Rat zum Schluss: „Vielleicht sollten Sie überlegen, wenn so viele Stellen gesagt haben, dass Sie irren, ob das möglich ist.“


Die Berufung

Noch im Gerichtssaal kündigte Verteidiger Prof. Wilhelm an, er werde für seinen Mandanten Berufung einlegen. Im anschließenden Interview führt er aus: Der Nachweis, dass es Unrechtsabsprachen gegeben habe, sei auch wegen des großzügig von der Richterin gewährten Zeugnisverweigerungsrechts schwierig gewesen. In der nächsten Instanz müssten all diese Zeugen aussagen, das werde genutzt. Insbesondere werde er die Rolle und das Verhalten des Herrn Mucke hinterfragen. Und natürlich sehe er nach wie vor nicht, dass die strafrechtlichen Voraussetzungen für eine üble Nachrede gegeben seien. Im strittigen Interview werden noch nicht einmal Namen genannt. Nach wie vor interessierte ihn auch die haushaltsrechtliche Grundlage, auf der die Zahlungen an die ASS von der Kämmerei angewiesen worden wären.

Tatsächlich kommt es immer wieder zu Ermahnungen der Instanzgerichte durch das BVerG, weil sie vorschnell von Tatsachenbehauptungen ausgehen und Aussagen nicht in den Kontext stellen, in dem sie gefallen sind. Spätestens beim Oberlandesgericht Düsseldorf könnte also diese Strategie aufgehen.

Die offene Frage, warum die Staatsanwaltschaft Wuppertal den ASS-Skandal nicht aufgeklärt hat, wird leider weiter offen bleiben. Die Handlungen sind inzwischen verjährt. Die offene Frage, warum dem ehemaligen OB Mucke ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO von der Richterin eingeräumt wurde, ist nach dieser Urteilsbegründung brisant. Sie hätte das nur erteilen dürfen, wenn sie glaubhaft davon ausgehen konnte, dass er sich bei Beantwortung der Fragen der Verteidigung der Gefahr aussetzte wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden. Und er durfte dies auch nur unter derselben Voraussetzung in Anspruch nehmen.

Man darf gespannt sein, wie es weiter geht. Vielleicht müssen die drei Kartons noch einmal ausgepackt werden.