20. Dezember 2020, Dr. Christine Leithäuser
Durch die Angst vor dem Virus werden derzeit fast alle anderen Themen verdrängt oder vergessen. Zu Unrecht. Wir zerstören gerade unsere Lebensgrundlagen. Wir verdrängen, dass der Klimawandel direkt vor unserer Tür stattfindet. Wir müssen mit dem Umbau zur nachhaltigen Stadt jetzt beginnen.
Morgens mit dem Auto nach Düsseldorf. Vorbei an den Barmer Anlagen, vorbei am Burgholz, Sonnborner Kreuz, A 46, Stau. Die Landschaft weicht zurück. Gewerbebauten, Abfahrten, Autobahnkreuz. In der Ferne der Funkturm, Bürohäuser. Abfahrt Hafen. Wieder Stau. Ins Büro, in die Konferenz, zum Arbeitsessen, an den Schreibtisch. Und retour. Die Tage ähneln sich, die Menschen sind immer die gleichen, auch wenn die Namen wechseln. Der Blick aus dem Fenster zeigt andere Fenster, andere Gesichter dahinter. Was tun wir hier?
Fünfzigtausend Pendler verlassen jeden Tag Wuppertal, genau so viele fahren hinein. Wer in Düsseldorf oder Köln arbeitet, zieht den billigeren Wohnraum in Wuppertal vor. Wer in Wuppertal arbeitet, lebt gerne im Grünen. Vielleicht im Ennepe-Ruhr-Kreis. Vom klimatisierten Auto aus betrachtet, scheint das gar nicht schlimm. Für Fußgänger sieht es anders aus. Die Stadt verkommt. Parkplätze statt Bürgersteigen, Spielplätzen und Bäumen. Fast der gesamte öffentliche Raum wird von Autos belegt. Der neue „Luftreinhalteplan“ funktioniert nur, weil wegen des Corona-Virus viele Arbeitnehmer ins home-office gewechselt haben.
Die Zahlen aus der Zeit vor Corona sind laut Europäischer Union diese: Der Verkehr ist für fast 30 Prozent der gesamten CO2-Emissionen der EU verantwortlich, 72 Prozent davon verursacht der Straßenverkehr. Seit 1990 steigen die verkehrsbedingten Emissionen, während die Sektoren Bauen, Energiewirtschaft, Industrie und Landwirtschaft alle ihren CO2 Ausstoß senken konnten.
Auch nur kurze Spaziergänge im Park oder Wald offenbaren seit August überall Trockenschäden. Zu früh einsetzende Herbstfärbung, abgestorbene Äste, verringerte Knospenbildung. Der Wald verändert rasant seine Gestalt, schneller als man ihn wieder aufforsten kann. Die heißeren und trockeneren Sommer sind der Tod des bergischen Waldes. Mit unseren alltäglichen Verrichtungen sorgen wir dafür.
Seit 1984 wird der Zustand der Wälder in NRW jährlich untersucht. 2019 gab es die schlechtesten Ergebnisse. Nur noch 19 Prozent der Bäume sind gesund. Trockenheit und Hitze in den extremen Jahren 2018 und 2019 verringerten die Bodenfeuchtigkeit, Insekten und Pilze breiteten sich überdurchschnittlich aus. Sichtbar ist dies z.B. bei den Eichen. Ihre Kronen verlieren Blätter. Ebenso wie die Buche reduziert sie die Fruchtbildung. Auch Kiefern weisen kahle Stellen auf. Am meisten aber trifft es die Fichte. Durch ihr flaches Wurzelsystem leidet sie am stärksten durch Wasserstress. Massen an Borkenkäfern fressen sich unter der Rinde durch, bis die Bäume absterben. Abwehrmechanismen sind bei den so geschwächten Bäumen kaum mehr vorhanden.
Es handelt sich hier aber weder um ein lokales noch zeitlich begrenztes Phänomen. Die durchschnittliche Temperatur steigt, der Laubaustrieb beginnt immer früher. Damit steigt auch der Wasserbedarf der Bäume, der von den geringeren Regenmengen nicht mehr gedeckt wird. Die Böden können den Mangel nicht ausgleichen. Auf Satellitenbildern kann man die Waldschäden erkennen. Beispielhaft wird die Gesundheit der Nadelbäume kartiert. Wald und Holz NRW bietet Kartenübersichten für das gesamte Bundesland an.
Zur Strategie gegen den Klimawandel gehört auch, dass die heimischen Wälder als Kohlenstoffsenken CO2 speichern. Wie soll das funktionieren, wenn die Wälder aufgrund des Klimawandels absterben? Es muss eigentlich sofort damit begonnen werden, mit Arten aufzuforsten, die die Hitze und Trockenheit besser vertragen. Eichen, Linden, Esskastanien und Robinien werden die heimischen Buchen, Birken und den Ahorn zu großen Teilen ersetzen müssen. Bei den Nadelbäumen sind Kiefern, Tannen und Lärchen sowie Zedern und die Douglasie resistenter gegen Trockenphasen als die hier weit verbreiteten Fichten. Der heimische Wald wird vielfältiger. Hoffentlich.
Das Arboretum Burgholz diente schon als Forschungsstätte, um diejenigen Bäume zu identifizieren, mit denen der „deutsche Wald“ ergänzt werden kann. Die Landesforstverwaltung hat zusammen mit Verbänden und wissenschaftlichen Einrichtungen ein neues Waldbaukonzept entwickelt, das im Dezember 2018 veröffentlicht wurde. Es ist seitdem die Arbeitsgrundlage der Förster in NRW. Die Vitalität, Stabilität und Widerstandsfähigkeit der Wälder soll erhöht und damit das forstwirtschaftliche Risiko verringert werden.
Unstrittig ist, „dass wir in hundert Jahren andere Wälder haben werden als heute. Wie sie genau aussehen, lässt sich jedoch noch nicht sagen. […] Wir wissen noch wenig darüber, wie für unsere Breiten bisher ungewohnte Baumarten wie beispielsweise Esskastanie oder Große Küstentanne bei uns gedeihen.“ Daher forscht Wald und Holz NRW, wie sich Waldbau, Waldplanung, Holzernte, Wald- und Klimaschutz entwickeln und gibt diese Erkenntnisse an private Waldbesitzer weiter. „Auch wenn uns der Klimawandel viel Unsicherheit bringt, sicher ist, wie immer, wenn es um Bäume geht: Es wird Jahrzehnte dauern, bis unsere Wälder umgebaut sind.“ Es geht um viel und es ist eine Angelegenheit der Bürger: 27 Prozent der Landesfläche NRWs, das sind 935.000 ha, sind mit Wald bedeckt. Dieser speichert rund 700 Mio. t CO2. Etwa zwei Drittel der Waldfläche ist in privater Hand.
Das nordrhein-westfälische Waldbaukonzept nennt 23 „Waldentwicklungstypen“, in denen Baumarten nach Standortbedingungen in Gruppen zusammengefasst werden. Es handelt sich in der Regel um einen Mix von Licht- und Schattbaumarten sowie Nadel- und Laubbäumen. Diese Mischung hat für Waldbesitzer mehrere Vorteile: verschiedene Holzarten bedeuten verschiedene Absatzmärkte, das Risiko eines Totalausfalls sinkt. Stirbt eine Baumart ab, kann eine andere die Lücke füllen. Zudem erhöht dieser Mischwald die Biodiversität und die Fülle an Lebensräumen im Wald. Ein Waldentwicklungstyp umfasst mindestens vier Baumarten. Zum Beispiel der Typ Buche-Eiche/Roteiche: Auf 50 Prozent sollen Buchen stehen, auf bis zu 50 Prozent Eichen. Dazu sind zehn Prozent Begleitbaumarten angestrebt. Dazu zählen etwa Elsbeeren oder Eiben. Oder der Tannenmischwald: Hier sollen zur Hälfte Weißtannen stehen, Fichten oder Douglasien zu 30 Prozent, Buche oder Bergahorn mit bis zu 20 Prozent und andere Begleitbaumarten mit bis zu zehn Prozent.
Der am 10.12.2019 beschlossene Waldpakt NRW wiederum ist umfassender angelegt. Die „Anpassungsstrategie Wald im Klimawandel“ nennt folgende Ziele: klimastabile Mischwälder mit größerer Vielfalt und Naturnähe, angepasste Wildbestände und den Ausbau der Forschung. Für die Unterstützung der Besitzer bei Schadensfällen und für Gemeinwohlleistungen stellt das Land NRW Finanzmittel bereit. Nach Wald und Holz NRW fielen in den Jahren 2018 und 2019 allein in den Fichtenbeständen über 18,7 Mio. m³ Schadholz an. Für die Wiederbewaldung hat das Land 100 Mio. € für die kommenden 10 Jahre zugesagt. Geplant sind weiterhin der Ausbau des forstlichen Überwachungssytems zur frühzeitigen Schadensabwehr und Hilfen bei Verkehrssicherung und Waldbrandprävention. Dafür werden forstwirtschaftliche Zusammenschlüsse gefördert. Vereinbart wird in dem Pakt auch eine Unterstützung der Gemeinden für die Bereitstellung von Wald-Leistungen für die Allgemeinheit. Zudem wird sich das Land auf Bundesebene für eine Reform des Forstschäden-Ausgleichs-Gesetzes engagieren. Gefördert werden soll über das Bauministerium zudem der Holzbau.
Soviel zur Politik. Es gibt Pläne und Absichtserklärungen, aber deren Umsetzung wird Jahrzehnte dauern.
Bis 2050 muss das Ziel der klimaneutralen Lebens- und Produktionsweise erreicht sein. Die Kommunen spielen eine entscheidende Rolle dabei. Denn wie Menschen zusammen leben, prägt die Stadtlandschaft. Jeder einzelne trägt dazu bei. Jeder einzelne kann diese Landschaft verändern. Der Schlüssel dafür, die Folgen des Klimawandels zu begrenzen, ist unser Handeln vor Ort.
Es funktioniert nicht, die Verantwortung auf Gremien, Parlamente oder allgemein „die anderen“ abzuwälzen. Nur ein Beispiel dazu: Im Oktober berichtete die Wuppertaler Rundschau darüber, dass das Ressort Grünflächen und Forsten, es untersteht dem Beigeordneten Meyer, sich um eine finanzielle Förderung des Landes NRW beworben habe. Aha, denkt man, sie tun etwas. Oh nein, stöhnt man, wenn man weiterliest. Es geht bei der Bewerbung darum, Geld für das Verfassen eines „Rahmenkonzeptes“ einzuwerben. Dann könne man aufschreiben, wo in der Stadt Bäume fehlen. Was ist denn die alltägliche Aufgabe des Ressorts, wenn nicht auf der Grundlage der vorhandenen Planungsdaten die Standorte für neue Bäume zu kartieren und dann auch gleich zu pflanzen?
So wächst die Erkenntnis, dass jeder an seiner Stelle etwas tun muss. Die Hunderttausend Pendler müssen sich fragen, ob es nicht anders geht. Familien mit drei Autos auf der Straße auch. Es sind nicht die anderen, die das Problem lösen werden, wir sind es. Müssen Kinder bis vor die Schultür gekarrt werden? Warum kann nicht vor jedem Haus mindestens ein Baum stehen? Was ist schlimm daran, öfter einmal zu Fuß zu gehen? Warum darf man in den meisten Straßen kostenfrei parken, aber nicht auf der Straße Fußball spielen?
Wir haben uns eingerichtet in einer Stadtlandschaft, die immer häßlicher, lebensfeindlicher und dreckiger wird. Aus der wir in den Urlaub fliehen. Warum investieren wir nicht in unsere eigene Stadt, in unsere eigene Region?
Längst gibt es Netzwerke von Kommunen, die eine sogenannte nachhaltige Stadt aufbauen wollen. CO2-neutral bis 2050, mit mehr Grün- und Versickerungsflächen, einer Kreislaufwirtschaft. Davon spricht in Wuppertal bislang konsequent nur die Wuppertalbewegung mit ihrem Ansatz des „circular valley“. Die Kommunalpolitiker haben diese Entwicklung bislang komplett verschlafen oder wollen sie einfach nicht.
Das Netzwerk Local Governments for Sustainability umfasst mehr als 1750 kommunale und regionale Parlamente in mehr als 100 Ländern, die sich auf nachhaltige Stadtentwicklung verpflichtet haben. Boston ist eine dieser Städte: „Join us as we continue to make BOSTON a greener, healthier city.“ ist der Slogan der kommunalen Initiative „greenovateboston“, die jeden Bürger versucht einzubinden. Wir können von solchen Beispielen lernen und sehen, dass Wuppertal enorm an Lebensqualität gewinnen würde, wenn wir uns ebenfalls an den Umbau unserer Stadt machen.
Natürlich, die Umstellung des Verkehrs auf mehr öffentlichen Nahverkehr, mehr Elektromobilität und mehr „smart mobility“ bedeutet eine Änderung unseres Lebensstils. Manche Bürger halten es schon für Verzicht, wenn zwei Parkplätze vor ihrem Haus wegfallen, weil ein Fahrradweg ausgewiesen wird. Investitionen in den Immobilienbestand, wie z.B. die Umstellung der Heizungssysteme, müssen bezahlt werden. Andere Investitionen werden dafür geopfert werden müssen. Der Kurztrip nach Barcelona. Die neuen Klamotten. Jeden Tag trifft man Entscheidungen, die sich unmittelbar auf die Umwelt auswirken. Das müssen wir akzeptieren und uns dann fragen, wie denn unsere Stadt in zehn Jahren aussehen soll.
Die eine Möglichkeit ist, alles weiter laufen zu lassen, wie es gerade ist. Dann wird die Stadt möglicherweise so aussehen: Die Immobilien entlang der Talachse sind kaum noch zu vermieten und werden für unter fünf Euro/m² angeboten. Hier wohnen hauptsächlich Menschen mit geringem oder keinem eigenen Einkommen. Lärm, Abgase und die sommerliche Hitze haben die Mittelschicht auf die Süd- und Nordhöhen vertrieben. Sie fahren zur Arbeit nach wie vor mit dem Auto. Das Einkaufen wird hauptsächlich online erledigt, der Einzelhandel hat eine beispiellose Pleitewelle hinter sich. In Elberfeld und Barmen haben die Leerstände zugenommen. Die Talachse verödet. Die allgemeine Kaufkraft ist gesunken. Die Stadtverwaltung sieht sich nicht mehr in der Lage, die notwendigen Investitionen in die Infrastruktur oder den Nahverkehr zu tätigen, da hunderte Millionen an Gewerbesteuern fehlen. Kultureinrichtungen werden auf Sparflamme weiter betrieben. Wer kann, der verlässt diese Stadt.
Die andere Möglichkeit ist, in eine Verbesserung der Wohnviertel zu investieren, den Individualverkehr zu begrenzen sowie lokal einzukaufen und zu arbeiten. Parkplätze im öffentlichen Raum sind durch Quartierparkhäuser ersetzt. Fußgänger, Fahrradfahrer und Bäume prägen das Leben in jedem Viertel der Stadt. Lärm und Abgase sind Vergangenheit. Eine Vielzahl neuer kleiner Geschäfte in den Wohnvierteln bietet Dienstleistungen und Produkte des täglichen Bedarfs an. Die Wochenmärkte in Barmen, Elberfeld und Vohwinkel wachsen. Familien ohne eigenes Auto beleben die Nachfrage nach hochwertigem Wohnraum an der Talachse wegen der guten öffentlichen Verkehrsanbindung. Immobilienbesitzer investieren in Mietwohnungen. Familien verbringen ihre Freizeit in der Region, sie entdecken das Fahrrad und die Gastronomie vor Ort neu. Baugewerbe und Handwerk profitieren von der gestiegenen Nachfrage. Während der heißen Sommer spenden Bäume Schatten und Kühle in der Stadt. Das home-office ist eine etablierte Alternative zum Pendeln geworden. Es gibt überall co-working-spaces in der Stadt. Wuppertal ist beliebt bei gut ausgebildeten Menschen, die hier arbeiten und leben.
So könnte unsere Stadt aussehen. Verschlafen wir‘s nicht.