12. Februar 2024, Prof. Dr. Endrik Wilhelm
Der Meteorologe Edward Lorenz simuliert im Jahr 1963 Klimabedingungen: Um die Entwicklung des Wetters zuverlässig zu prognostizieren, füttert er einen für damalige Verhältnisse gigantischen Computer mit Daten. Der Computer ist in der Lage, bis zu sechs Dezimalstellen hinter dem Komma zu verarbeiten. Um Zeit zu sparen (oder aus Nachlässigkeit, wer weiß das schon?), gab Lorenz bei der Wiederholung einer Simulation nur drei Dezimalstellen ein. Resultat: zwei vollkommen unterschiedliche Wettervorhersagen!
Lorenz hielt dazu einen vielbeachteten Vortrag mit dem Titel: "Predictability: Does the Flap of a Butterfly’s Wings in Brazil set off a Tornado in Texas?" Seither gilt Lorenz als der Vater der Chaostheorie. Kleinste Veränderungen in komplexen Systemen können unvorhersehbare und sehr große Auswirkungen haben. Wie wir inzwischen wissen, gilt das auch für soziale Systeme.
Im Herbst 2018 hätte niemand vorausgesagt, dass die Wuppertaler zwei Jahre später mit Prof. Dr. Uwe Schneidewind von den GRÜNEN einen Transformationsforscher zum Oberbürgermeister wählen würden, noch dazu einen, der zu den intellektuellen Vorreitern der Klimaschutzbewegung gehört. Mit ihm hatte sich ein Kandidat durchgesetzt, der getrieben ist vom Glauben an eine notwendige Transformation menschlichen Lebens. Er formuliert den wissenschaftlichen Überbau von Fridays for Future: Bücher mit Titeln wie „Damit gutes Leben einfacher wird. Perspektiven einer Suffizienzpolitik“, „Transformative Wissenschaft“ oder „Die große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels“. Von 2010 bis 2020 leitete er das renommierte Wuppertal-Institut, das unter seiner Leitung das Selbstverständnis eines „führenden internationalen Think Tanks für eine impact- und anwendungsorientierte Nachhaltigkeitsforschung“ entwickelte. Schwerpunkt ist „die Gestaltung von Transformationsprozessen hin zu einer klimagerechten und ressourcenleichten Welt.“
Die Ausdrucksweise des Wissenschaftlers verschleiert die Radikalität der Ziele. Zusammengefasst bestehen sie in einer Abkehr von der Wachstumslogik hin zu einem entschleunigten und entkommerzialisierten Alltag. Nicht immer mehr und immer schneller produzieren und konsumieren. Der Mensch soll weniger Rohstoffe verbrauchen, Auswirkungen auf die Umwelt vermeiden und gerade durch ein „anders machen“ die eigene Lebensqualität erhöhen. Als Beispiel dient das tägliche Pendeln mit dem Rad statt mit dem Auto. Geradezu symbolhaft ist Tempo 30 innerorts.
OB Schneidewind hatte seine Ziele im Wahlkampf offen kommuniziert. Er wollte aus der verregneten und bergigen Industrie- und Arbeiterstadt Wuppertal ein Paradies für Fahrradfahrer machen und bis 2035 Klimaneutralität schaffen. Bis er auftauchte, waren die GRÜNEN die einzigen, die das propagierten. 2014 hatte das zu 14,9 % Zustimmung geführt. Selbst mit ihm als OB-Kandidat errangen die GRÜNEN 2020 gerade einmal 19,6 % der Stimmen. Und doch saß plötzlich einer ihrer fundamentalistischsten Vertreter auf dem Stuhl des OB. Was war geschehen, dass ein Missionar der Klimabewegung im Machtzentrum der Stadt landen konnte?
Ähnlich wie das Wetter sind politische Machtgefüge komplexe Systeme. In der Wuppertaler Kommunalpolitik werden sie bestimmt von den Parteien und der sogenannten „Stadtgesellschaft“, die in unterschiedlicher Zusammensetzung über die Parteien und die Stadtratsfraktionen Einfluss nimmt. Das dortige Geschehen dominieren seit 1946 SPD und CDU. Stärkste Partei im Stadtrat war bis 1999 die SPD, danach bis 2014 die CDU. Zu den OB-Wahlen präsentierten sie jeweils eigene Kandidaten, von denen mal der eine und mal der andere gewann. Zwischen 1964 und 2004 war das der Kandidat der SPD, zuletzt Hans Kremendahl. Nach dessen Aus wählten die Wuppertaler 2004 mit Peter Jung erstmals seit 40 Jahren einen OB von der der CDU. Auf ihn folgte 2015 Andreas Mucke (SPD).
In der Retrospektive scheint die Stadtratswahl 2014 der Auslöser gewesen zu sein für eine Kausalkette, deren Ergebnisse weder geplant noch willkommen waren und die erst heute sichtbar werden. Erstmals seit 1994 errang die SPD gleich viele Mandate wie die CDU (jeweils 19). 2009 hatte die CDU noch fünf Sitze mehr (24:19). Die wiedererlangte Augenhöhe innerhalb der seit 2004 währenden Kooperation mit der CDU nahm die SPD zum Anlass, die Einrichtung eines zusätzlichen Dezernats für einen SPD-Parteigänger einzufordern. Das Argument war, dass der Verwaltungsvorstand die Kräfteverhältnisse nicht mehr abbilde. Neben OB Peter Jung (CDU) bestand der aus vier Dezernenten, von denen zwei von der CDU und zwei von der SPD waren. Die SPD setzte sich durch und erhielt einen zusätzlichen Dezernenten. Ob damit neben machtpolitischem Ausgleich die Optimierung der Arbeitsprozesse in der Verwaltung angestrebt wurde, sei dahingestellt. Gewählt wurde mit den Stimmen von SPD und CDU Panagiotis Paschalis, der seit 30 Jahren Mitglied der SPD war.
Aber schon im Jahr 2015 war dieser mühsame Ausgleich hinfällig. Andreas Mucke (SPD) wurde überraschend zum OB gewählt. Plötzlich bestand der Verwaltungsvorstand aus vier SPD- und nur zwei CDU- Mitgliedern. Das konnte der CDU nicht recht sein und wird es der SPD leichter gemacht haben, Panagiotis Paschalis 2017 wieder abzuwählen. Die SPD wollte, so sagte es damals deren Fraktionsvorsitzender Klaus-Jürgen Reese, das Dezernat von Panagiotis Paschalis am liebsten gar nicht neu besetzen. Das kann aber auch daran gelegen haben, dass das Dezernat nach der Wuppertaler Pöstchenlogik der CDU zugestanden hätte.
2017 hätte die damit vielleicht noch leben können. Der Zufall wollte es aber, dass kurz nach der Abwahl von Panagiotis Paschalis die Wiederbestellung des Kulturdezernenten Nocke (CDU) anstand. Der konnte sich dank der Kooperation von SPD und CDU zwar einer Mehrheit im Stadtrat sicher sein, die Bezirksregierung hatte aber etwas dagegen. Denn das Gesetz verlangt, dass mindestens ein Mitglied des Verwaltungsvorstandes die „Befähigung zum Richteramt“ hat, also zwei juristische Staatsexamina vorweisen kann. Panagiotis Paschalis hatte diese Voraussetzung als letzter erfüllt.
Während der Suche nach einem geeigneten Beigeordneten wuchs in der CDU die Überzeugung, die Partnerschaft mit der SPD beenden zu müssen. Das war nicht etwa politischem Streit zu einzelnen Sachthemen oder grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten geschuldet. Die Sorge der CDU war, dass von der gemeinsamen Politik nur der SPD-OB und dessen Partei, nicht aber die CDU profitieren würde. Die CDU bedankte sich bei der SPD für die stets konstruktive Zusammenarbeit. Sie wollte sich durch den Gang in die Opposition profilieren.
Es dauerte nicht lange, bis die CDU – auf Grundlage welcher Gemeinsamkeiten auch immer – mit den GRÜNEN einen neuen Partner gefunden hatte. Sie vereinbarten eine „Kernbündnis“ genannte Zusammenarbeit. Die begann mit – wie sollte es anders sein – einer Postenvergabe. Sie forderten öffentlichkeitswirksam eine parteiunabhängige Nachfolge des verwaisten Paschalis-Dezernates und einen sich ausschließlich an der Kompetenz orientierenden Auswahlprozess. Das verbanden sie mit dem Antrag, das Dezernat um zahlreiche Zuständigkeiten zu erweitern. Ergebnis war eine am 25. Februar 2019 gegen die Stimmen der SPD beschlossene Ausschreibung mit der Zuständigkeit für die Bereiche Wirtschaft und Arbeit, Stadtentwicklung und Städtebau, Bauen und Wohnen, Klimaschutz sowie Recht. Inoffiziell erhielt es den Titel „Superdezernat“.
Vermutlich irgendein Hinterzimmerdeal führte dazu, dass mit Arno Minas ein GRÜNER als einziger Kandidat übrigblieb. An seiner Biografie kann es nicht gelegen haben. Arno Minas war Leiter des Bau- und Umweltamtes der thüringischen Kleinstadt Eisenach (43.000 Einwohner). Parallel hatte er sich in Bonn als Leiter des Umweltamtes beworben. Kaum vorstellbar, dass er ein konkurrenzloser Bewerber für ein Superdezernat in einer der größten Städte Nordrhein-Westfalens gewesen war.
Das interessierte damals aber niemanden. Arno Minas wurde am 19. Februar 2020 gewählt. Folge war eine Veränderung der Mehrheitsverhältnisse im Verwaltungsvorstand. CDU/Grüne hatten nunmehr drei Dezernenten, die SPD noch zwei Beigeordnete und den OB. Im Stadtrat hatte die SPD längst keine Mehrheit mehr.
Gemeinsam mit den GRÜNEN hatte die CDU die SPD ins Abseits manövriert. Als Arno Minas im Juni 2020 sein Amt antrat, gab es auch schon einen gemeinsamen Plan zur Rückeroberung des Rathauses. Es war absehbar, dass das nicht so einfach werden würde. Dem Amtsinhaber Andreas Mucke wurden gute Aussichten prognostiziert. Als Ergebnis seiner Amtszeit hatte er zwar nicht sonderlich viel vorzuweisen, er galt aber als bürgernah und war beliebt bei den Wuppertalern.
Die CDU wollte – wie immer – mit einem eigenen Kandidaten konkurrieren, hatte aber keinen, der auch nur parteiintern eine Nominierungschance gehabt hätte. Das etablierte politische Personal bei den GRÜNEN war weder geeignet noch in der CDU vorzeigbar. Das machte die Suche nach einem gemeinsamen Kandidaten zur einzigen erfolgversprechenden Option im OB-Wahlkampf.
Benötigt wurde eine parteiübergreifend vermittelbare Lichtgestalt. Die erschien in Person von Uwe Schneidewind. Der war zwar ein GRÜNER, gehörte aber nicht zum Establishment. Seine Parteizugehörigkeit war nicht einmal öffentlich bekannt, sein Lebenslauf war nach dem äußeren Anschein auch für einen CDU-Anhänger beeindruckend. Schneidewind war keiner der vielen GRÜNEN, die über Wehrdienstverweigerung und ewiges Studententum irgendwann in der Politik oder einer Verwaltung Fuß gefasst hatten. Er hatte bei der Luftwaffe gedient und erfolgreich BWL studiert. Nach einem kurzen Intermezzo als Berufsanfänger bei der Unternehmensberatung Roland Berger – das ließ sich gut als Erfahrung in der freien Wirtschaft verkaufen – wurde er in der Schweiz promoviert und habilitiert. Mit gerade einmal 32 Jahren war er Hochschullehrer, mit 38 Präsident der Carl-von-Ossietzky-Universität in Oldenburg. Seine 2010 aufgenommene und zehn Jahre andauernde Tätigkeit als Direktor des weit über die Grenzen der Stadt hinaus bekannten Wuppertal-Instituts gab ihm nicht nur das notwendige Lokalkolorit. Überdies stand er damit in einer Reihe mit Persönlichkeiten wie Johannes Rau als Gründervater des Instituts und Ernst Ulrich von Weizsäcker als erstem Präsidenten. Das paarte sich mit der Aura eines Mitglieds des Club of Rome und – laut FAZ-Ranking – einem der 100 einflussreichsten Ökonomen Deutschlands. Zum Zeitpunkt der Aufstellung als OB-Kandidat lehrte er als Professor an der Bergischen Universität in Wuppertal. Alles in allem vermittelte Uwe Schneidewind das Bild eines veritablen Intellektuellen mit Führungskompetenz und Wuppertaler Wurzeln.
Anfänglich regte sich in der CDU zwar Widerstand. Womöglich fragte sich der eine oder andere, ob es hinreichende Übereinstimmung in den politischen Zielsetzungen mit einem Fundamentalisten von den GRÜNEN gab. Allerdings ließ die allein mit ihm greifbar nahe erscheinende Rückeroberung des Rathauses die Bedenkenträger rasch verstummen. Vermutlich setzte sich die Überzeugung durch, Uwe Schneidewind – einmal im Amt – könnte schon auf Linie gebracht werden. Allein die Vorstellung, eine international geachtete Persönlichkeit wie Uwe Schneidewind zum Oberbürgermeister zu machen und sich in seinem Glanz zu sonnen, muss für viele in CDU und Stadtgesellschaft reizvoll gewesen sein. So reizvoll, dass aus ihm der gemeinsame Kandidat von CDU und GRÜNEN wurde.
Allerdings dachte der nicht nur von persönlichem Ehrgeiz, sondern auch von politischen Zielen getriebene Uwe Schneidewind nach seiner Wahl nicht daran, sich den Granden der CDU unterzuordnen. Er wollte seine Klimapolitik mit Leben erfüllen. Sein größter sichtbarer Erfolg ist die Allianz mit Dr. Carsten Gerhardt von der Wuppertal-Bewegung. Der stellte sein Netzwerk in den Dienst der von OB Schneidewind angestrebten Ziele. Er gründete die Circular Valley Stiftung, die Wuppertal bundesweit mit dem inzwischen zweifach veranstalteten Circular Valley Forum als Zentrum der Transformation sichtbar macht. Die Circular Valley Accellerator GmbH soll dazu passende Geschäftsmodelle in die Region bringen. Viel Sichtbares ist daraus zwar noch nicht entstanden. Noch wirkt es aber wie ein durchdachtes Konzept, dessen Initiatoren wissen, was sie tun.
Passend zur Agenda identifizierte OB Schneidewind ein Groß-Projekt, das zufällig gerade aktuell war: Die BUGA 2031. Angeschoben hatte diese noch – vermutlich eine Blümchenschau assoziierend – Peter Jung. Sein Nachfolger Andreas Mucke griff die Idee auf und ließ 2018 eine Machbarkeitsstudie anfertigen. OB Schneidewind gab ihr den Arbeitstitel „Circular-BUGA“. Die sollte nach einer weiteren Machbarkeitsstudie weit mehr sein als eine Blümchenschau. Für ihn ist es eine einmalige Chance, ein großes städtisches Areal klimaneutral zu gestalten, die Vorteile der Kreislaufwirtschaft zu demonstrieren und zahlreiche Reallabore zu schaffen.
Transformation im Mirker Viertel
Das skaliert, woran OB Schneidewind zuvor im Wuppertal-Institut jahrelang forschte. Gemeinsam mit dem Zentrum für Transformationsforschung und Nachhaltigkeit der Bergischen Universität betreibt das Institut Reallabore in der ganzen Stadt, unter anderem in „Utopiastadt“ an der Mirke und der „Arrenbergstatt“ am Arrenberg. Die verfolgen das Ziel, in realer Umgebung Bedingungen zu simulieren, in denen nach Lösungen für alle möglichen Probleme menschlichen Zusammenlebens gesucht wird. Eine Circular-BUGA eignet sich perfekt, größere Räume entsprechend zu gestalten und Bedingungen zu schaffen, um Klimaschutz und Kreislaufwirtschaft in ein großes Stadtentwicklungsprojekt zu integrieren, die Vorteile eines damit verbundenen „weniger statt mehr“ unter realen Bedingungen zu demonstrieren und neue Ideen auszuprobieren.
Bei derart ambitionierten Zielen treten profane Nebensächlichkeiten wie die für ein derartiges Projekt benötigten finanziellen Mittel leicht in den Hintergrund. Die Wirkmechanismen der Politik begünstigen das, weil noch so gewichtige und sachlich berechtigte Bedenken mit „politischen Mehrheitsentscheidungen“ einfach vom Tisch gewischt werden können. OB Schneidewind lernte in Windeseile, wie das funktioniert und machte es sich zunutze.
Zum Auftakt der Debatte legte er im März 2021 die überarbeitete Machbarkeitsstudie zur Circular BUGA vor, die selbstverständlich bestätigte, was sie bestätigen sollte, die Machbarkeit der BUGA. Noch bevor eine ernsthafte politische Diskussion im Stadtrat stattfand, gründete sich zur Unterstützung am 1. Juni 2021 ein Förderverein, in dem sich das Who is Who der Wuppertaler Stadtgesellschaft versammelte. Geschäftsführer wurde der Vorstandsvorsitzende der Stadtsparkasse Wuppertal, Gunther Wölfges. Zu seinen Mitgliedern gehörten u.a. der Stadtverband der Bürger- und Bezirksvereine Wuppertals, der frühere Vorstandsvorsitzende der Stadtsparkasse Peter Vaupel, die Wirtschaftsjunioren Wuppertal mit Dario Vaupel an der Spitze, der Zooverein, der IHK-Bezirksausschuss, der inzwischen legendenumwobene ehemalige Unirektor Prof. Dr. Lambert T. Koch und die Tochter des Lichtplaners Johannes Dinnebier, Antonia Dinnebier, Geschäftsführerin von Schloss Lüntenbeck. Flankiert wurde das von einem im September 2021 fertiggestellten Gutachten eines Fakultätskollegen des OB an der Bergischen Universität, das sich mit den ökonomischen Effekten der Circular-BUGA befasste und ihr – wenig überraschend – die Auskömmlichkeit bescheinigte.
Mit dieser Munition im Gepäck wollte OB Schneidewind im November 2021 den Stadtrat über die Bewerbung beschließen lassen. Die Unterstützung der GRÜNEN war ihm sicher, die der SPD als Initiatorin der ersten Machbarkeitsstudie ebenfalls. Die CDU hatte sich im Programm für die Kommunalwahlen 2020 zwar noch sehr skeptisch gezeigt und im Sommer 2021 öffentlich explizit dagegen ausgesprochen. Im Herbst war davon unter dem Eindruck des Votums der „Stadtgesellschaft“ aber keine Rede mehr.
Einzig der damalige Kämmerer Dr. Johannes Slawig sah eine finanzielle Katastrophe auf sich zurollen und bekam es als Haushaltsverantwortlicher mit der Angst zu tun. Er wies auf die „massiven Risiken“ hin, die mit den für eine Finanzierung einer BUGA benötigten zusätzlichen € 71 Mio. bis 2031 einhergingen. Der Haushalt wäre nicht einmal ohne diese Belastungen gesichert, nachdem bereits große Investitionen vom Stadtrat beschlossen waren (Schulsanierungen, Pina-Bausch-Zentrum, WSW u.a.). Es drohe schon bald die Notwendigkeit eines Haushaltssicherungskonzeptes. Sein Votum endete mit dem Rat, „mit allem Nachdruck auf die Durchführung einer Bundesgartenschau zu verzichten.“ Er sagte das nicht nur intern im Verwaltungsvorstand. Seine Angst war so groß, dass er OB Schneidewind düpierte, indem er seine Bedenken in der Beschlussvorlage ausführlich dokumentierte.
In der freien Wirtschaft würde ein CEO ein Projekt gegen den erklärten Widerstand des Finanzvorstandes nur durchsetzen können, wenn er dessen Bedenken widerlegen könnte. In einer Kommunalverwaltung ist das anders. Dort spielen Sachfragen keine Rolle, wenn es eine Mehrheit im Stadtrat gibt und der Bedenkenträger mundtot gemacht werden kann. So war es einmal mehr in Wuppertal. Ohne dass sich der Stadtrat mit der Frage der Finanzierbarkeit auch nur befasste, geschweige denn die Bedenken des Kämmerers widerlegte, stimmte er der Vorlage des OB mit überwältigender und von SPD, CDU, GRÜNEN und FDP getragener Mehrheit von 80% zu 20% der Stimmen zu. Das reichte aus, um sämtliche Bedenken, und seien sie noch so berechtigt, zu erledigen.
Johannes Slawig fiel in Ungnade. Bis dahin waren CDU und GRÜNE noch von einer Verlängerung der Ende 2022 auslaufenden Amtszeit des einstigen Steigbügelhalters des OB Schneidewind ausgegangen. Jener hatte sogar seine Unterstützung zugesagt. Als Kämmerer brauchte er aber jemanden, der die Realisierung der BUGA ermöglichte, keinen Chefbedenkenanmelder. Er machte den PR-Fehler, seinen Widerwillen zunächst öffentlich zu erklären, was ihm das Attribut des „Königsmörders“ einbrachte. Um das abzufedern, griff er ein weiteres Mal zur Allzweckwaffe Gutachten und holte eines von der Bezirksregierung ein, die sonst womöglich nie tätig geworden wäre. Es kam zu dem gewünschten Ergebnis. Dr. Slawig musste den Verwaltungsvorstand zum 31. Oktober 2022 verlassen. Es passt zur Wuppertaler Realsatire, dass Dr. Slawig gehen musste, weil er etwas Richtiges getan hatte.
Nur wenige Wochen nach Bekanntwerden des Ausscheidens von Johannes Slawig verlor OB Schneidewind die Unterstützung der CDU. Anlass war nicht etwa ein Streit über die goldenen Bänke am Von-der-Heydt-Platz oder die Zustände in der Poststraße oder am Neumarkt, auch nicht die Fäkalien am Wupper-Ufer Ost, oder die Probleme mit der Sandsteinfassade am Döppersberg, nicht die Brechreiz auslösende öffentliche Toilette am Barmer Rathaus, die Gefahrenlage am Brennpunkt Berliner Platz, die Pläne zur Kaiserstraße als Fußgängerzone, die Zustände in der Barmer Innenstadt, die Probleme mit dem GMW und der WSW, die ausbleibenden Schulsanierungen, das bevorstehende Ausscheiden zahlreicher Mitarbeiter der Verwaltung, die BUGA, das Pina-Bausch-Zentrum oder irgend ein anderes der zahllosen Themen, die den Wuppertalern unter den Nägeln brennen. Nein. Laut WZ wurde OB Schneidewind aus den Reihen der CDU in einem vertraulichen Gespräch vielmehr kritisiert, weil er sie in der Öffentlichkeit nicht angemessen vertrete.
Für OB Schneidewind muss das ein Déjà-vu gewesen sein. Auf seine Reaktion war die CDU nicht vorbereitet, hätte es aber sein können. Denn unbeschadet all der Eigenschaften, die ihm von Wikipedia, FAZ etc. zugeschrieben werden, hat Uwe Schneidewind ein paar Charakterzüge, die im Abwägungsprozess der CDU offenbar untergingen, als sie ihn zu ihrem Kandidaten machte. Das sind eine bisweilen zutage tretende Überheblichkeit und Überreaktionen auf Kritik. Während seiner Zeit als Präsident der Universität Oldenburg führte diese Kombination dazu, dass er sich so sehr mit dem Senat überwarf, dass er eine von ihm geleitete Sitzung wortlos verließ und einige Zeit später von dem Amt zurücktrat. Nachdem der Senat einer Universität so etwas wie die Salonversion eines Stadtrates ist, deutete das darauf hin, dass der sich selbst als „Transformationspapst“ bezeichnende und mit gespielt wirkender Bescheidenheit gern von Terminen beim Bundespräsidenten berichtende Uwe Schneidewind Schwierigkeiten hat, eine gespaltene und bisweilen irrational agierende Gruppe wie einen Universitätssenat oder eben einen Stadtrat und dessen Mitglieder im Zaum zu halten.
Dem entsprach seine Erwiderung auf die Kritik. Laut WZ bezeichnete er die CDU als „schwindsüchtige Partei“. Er sei nicht auf die CDU-Fraktion angewiesen. Er könne sich auch andere Partner suchen. Insbesondere in der Stadtgesellschaft werde er „immer stärker“.
Das offenbarte zwar keine unüberbrückbaren politischen Differenzen zu irgendeinem Sachthema, verletzte aber die Eitelkeit von Politikern, was in Wuppertal viel schlimmer ist. Die Folgen waren gravierend. Die Unterstützung des OB durch die CDU war beendet. Uwe Schneidewind konnte diese Lücke nicht kompensieren. Das entmachtete auch die GRÜNEN, deren Agenda nur zwei Jahre zuvor zum Leitthema der Wuppertaler Kommunalpolitik mit bundesweiter Beachtung geworden war. Mit ihren gerade einmal 16 Mandatsträgern suchten sie erfolglos nach neuen Bündnispartnern. Gleichzeitig wandte sich die CDU der SPD und FDP zu. Sie organisierten innerhalb weniger Wochen eine stabile Stadtratsmehrheit gegen den OB. Die politische Agenda der GRÜNEN war unter die Räder gekommen, weil OB Schneidewind für einen kurzen Moment die Maske gelüftet hatte.
Seitdem folgen die Geschehnisse in der Stadt nicht nur unbeabsichtigt den Gesetzen der Chaos-Theorie, das Chaos ist offen ausgebrochen. CDU, SPD und FDP verfügen über 49 von 80 Stimmen und nutzen das, um den Verwaltungsvorstand zu gängeln, zuletzt durch eine Neuorganisation desselben. Die Vorschläge des OB zur Organisation der Verwaltung lehnte das neue Bündnis kategorisch ab. Sie schnitten die Dezernate nach ihren eigenen Vorstellungen zu.
Die Poststraße in Elberfeld
Welches Problem der Stadt sich mit Hilfe dieser Verwaltungsstruktur besser lösen lässt, blieb ihr Geheimnis. In erster Linie entmachteten sie den Dezernenten ihres gemeinsamen Gegners, Arno Minas von den GRÜNEN. Aus dessen Superdezernat blieb kaum etwas übrig, ohne dass CDU, FDP oder SPD seine Arbeit zuvor sichtbar kritisiert hätten. Der mit einem Mal perspektivlose Ex-Superdezernent nutzte seine drei Jahre in Wuppertal als Sprungbrett nach Münster. Die einzig messbare Konsequenz des neuen Verwaltungszuschnitts bestand danach darin, dass die GRÜNEN keinen Dezernenten mehr hatten. Die Stadtratsmehrheit aus SPD, CDU und FDP wird das als ihren politischen Erfolg feiern.
Ansonsten verzichtet das neue Bündnis weiterhin konsequent darauf, sich mit der Lösung auch nur eines der zahlreichen Probleme der Stadt zu befassen. Sie konzentrieren sich auf das, was sie am besten können und am liebsten machen: Die Sicherung und den Ausbau ihrer Machtpositionen. Das funktioniert nicht immer, wie das Beispiel des ehemaligen Fraktionsvorsitzenden der FDP zeigt. Alexander Schmidt wollte offenbar den Lohn für die Unterstützung der Front gegen den OB und Dezernent werden, was – mit Blick auf seine Freiheit von diesbezüglicher Eignung – zum Glück für die Stadt scheiterte. Leider entwickelte sich daraus gleich die nächste Peinlichkeit bei der Besetzung des offenbar der FDP zugebilligten Dezernats: Ein von der FDP ins Spiel gebrachter Kandidat aus Köln namens Alexander Vogel überstand zwar die Befragungen in den drei Fraktionen. Gewählt wurde er trotzdem nicht, weil ihm mehrere unbekannt gebliebene Fraktionsmitglieder ihre Stimme verweigerten.
Diese Episode führte immerhin der „Stadtgesellschaft“ vor Augen, in welchem desolaten Zustand sich der Stadtrat befindet. Es hagelte öffentliche Kritik, die Fraktionsvorstände von CDU und FDP wurden ausgetauscht. Geradezu im Eilverfahren, ohne vorherige Ausschreibung, wurde Ende 2023 eine bis dahin vollkommen unbekannte Kandidatin, Dr. Sandra Zeh, für den Bereich Personal, Digitalisierung und Wirtschaft einstimmig gewählt. Die Bereiche Bauen und Stadtentwicklung sind nach wie vor vakant. Inzwischen verkommt die öffentliche Infrastruktur Wuppertals immer mehr.
Unsere Rechtsordnung hält eine ganze Reihe von Institutionen vor, die derartige Entwicklungen und insbesondere verantwortungslose Haushaltspolitik verhindern sollen. Keine davon erfüllt in Wuppertal ihre Aufgabe. Vielmehr erzeugt die Untätigkeit der Institutionen eine fatale sich selbst verstärkende Struktur: das zunehmende Desinteresse der Bevölkerung an der Kommunalpolitik erlaubt es den städtischen Gremien, sich ungestraft nur mit sich selbst zu beschäftigen. Das schadet der Stadt und gefährdet unsere Demokratie.
Bei der Entscheidung über die BUGA hätte als erstes der Rechtsdezernent seine Stimme erheben müssen. Planungen der Stadtverwaltung sind kein rechtsfreier Raum. Sie unterliegen dem Gebot der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit. Kommunen sind verpflichtet, ausgeglichene Haushalte zu planen. Es ist ihnen verboten, übermäßige Risiken einzugehen. Den Verwaltungsvorständen steht zwar ein weiter Ermessensspielraum bei ihren Entscheidungen zu, Maßnahmen mit unverantwortlichen Risiken sind ihnen jedoch nicht erlaubt. Ausgehend von den unwidersprochen gebliebenen Ausführungen des Kämmerers in der Beschlussvorlage gab es schon 2021 ohne Einsparungen an anderer Stelle keine Finanzierungsaussicht. Das machte die BUGA-Entscheidung unvertretbar. Es ist die Aufgabe eines Rechtsdezernenten, seine Kollegen im Verwaltungsvorstand darauf hinzuweisen. Arno Minas zog es vor zu schweigen, was zwar nicht der Stadt, aber ihm selbst genutzt haben dürfte: Der letzte Rechtsdezernent, der im Wuppertaler Verwaltungsvorstand auf die Rechtswidrigkeit eines Geschäfts der Verwaltung hingewiesen hatte, hieß Panagiotis Paschalis und wurde wenig später abgewählt. Johannes Slawig war nach Ausspruch seiner Warnung auch nicht mehr lange Kämmerer. Das Recht hatten beide auf ihrer Seite. Das nutzt in Wuppertal nur nichts.
Die nächste Kontrollinstanz wäre der Stadtrat gewesen. Die dortige Parteiendominanz führt aber dazu, dass die Willensbildung in den die BUGA tragenden Fraktionen von oben nach unten geschieht – soweit eine geordnete Willensbildung überhaupt stattfindet. Anders ist es gar nicht denkbar, dass kein einziges Stadtratsmitglied am 16. November 2021 die Frage stellte, wie die Verwaltung den Bedenken von Dr. Slawig zu begegnen gedenke. Allein die Tatsache, dass sich der Kämmerer im Rat offen gegen die Vorlage des OB stellte, war alarmierend. Der Kämmerer hatte dargestellt, dass den benötigten € 71 Mio. planbare Deckungsmittel in Höhe von € 0 gegenüberstünden und mit Mehreinnahmen nicht zu rechnen sei, dafür aber mit zusätzlichen Belastungen. Es sei bereits ohne BUGA absehbar, dass die Stadt Schwierigkeiten haben werde, einen ausgeglichenen Haushalt aufzustellen. Ohne Verzicht auf andere Investitionen sei die Finanzierung der BUGA nicht denkbar. Es ist gesetzwidrig, wenn Stadträte bei dieser Ausgangslage trotzdem zustimmen.
Auch als der neue Kämmerer, Thorsten Bunte, am 15. Januar 2024 im Stadtrat seine erste Haushaltsrede hielt, wurde nicht erneut über die BUGA-Pläne diskutiert. Bunte berichtete über real rückläufige Steuereinnahmen, zusätzliche zu finanzierende Aufgaben, ein investitionsfeindliches Zinsniveau, rückläufige Schlüsselzuweisungen und ein geplantes Neuverschuldungsverbot. 2024 sei mit einem Haushaltsdefizit in Höhe von € 75,7 Mio. zu rechnen. Sämtliche Rücklagen würden bis 2027 aufgezehrt sein. Damit einher ginge eine Erhöhung der Schulden von € 1,7 Mrd. (2023) auf 2,3 Mrd. bis 2028 und eine daraus folgende Zinsbelastung von zusätzlichen € 40 Millionen pro Jahr. Nichts von all dem bewog auch nur einen der Stadträte von SPD, CDU, GRÜNEN oder FDP, ihre ambitionierten Investitionspläne zu hinterfragen.
Nicht einmal die Ankündigung des Kämmerers, dass bereits 2026 ein Haushaltssicherungskonzept erstellt werden müsse, sorgte für Unruhe – von ebenso kritischen wie ungehört verhallenden Anmerkungen der LINKEN einmal abgesehen. Der Hinweis des Stadtrates Zielezinski (DIE LINKE), die Haushaltssicherungskonzepte vergangener Jahre hätten zu Stellenabbau beim städtischen Personal, Verschlechterung im Service für die Bürger, Schließung von Schulen und Verschiebung dringender Instandsetzungen geführt, interessierte niemanden. Es brachte die Befürworter der BUGA nicht auf die Idee, den Kämmerer zu fragen, was das für den Haushalt 2026 konkret bedeute. Die Verantwortlichen in der Stadt Wuppertal halten lieber unbeirrbar an sämtlichen Investitionsvorhaben mitsamt den bereits jetzt anfallenden Vorlauf- und Planungskosten fest, obwohl der Verzicht auf einzelne von ihnen unvermeidbar sein wird. Das wird auch nicht die Ankündigung der WSW ändern, eine halbe Milliarde für die Erreichung der Klimaziele zu benötigen. Absurder geht es nicht.
Die gesetzlich dazu berufenen Aufsichtsorgane bleiben ebenso stumm. Die Bezirksregierung wird erst tätig werden, wenn die Haushaltssicherung greift und das Kind ertrunken im Brunnen liegt. Ähnliches gilt für die Staatsanwaltschaft, obwohl es keinen Zweifel gibt, dass solches Verwaltungshandeln einen massiven Verdacht für eine Untreue begründet. Denn Stadträte und Verwaltung entscheiden über die Verwendung von Geld, das ihnen nicht gehört. Das verlangt besondere Sorgfalt bei den Entscheidungen über Mittelverwendungen. Die Anforderungen an die Qualität der Abwägungsprozesse sind zwar nicht allzu hoch, sie müssen die Entscheidung jedoch zumindest plausibel erscheinen lassen. Das war bereits im Angesicht der von Dr. Slawig mitgeteilten Bedenken nicht der Fall, spätestens die Haushaltsrede des neuen Kämmerers erledigte im Januar 2024 jede Plausibilität. Es war und ist sicher, dass die Stadt nicht alle geplanten Investitionen wird finanzieren können. Eine Anpassung der Planung und der Verzicht darauf, weitere Kosten für parallel angelaufene Projekte zu produzieren, ist daher geboten. Solange diese notwendigen Anpassungen verzögert werden, entstehen weitere unsinnige Ausgaben, die für die verbleibenden Investitionen nicht mehr verwendet werden können.
Alltag auf den Hauptstraßen
Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird die Staatsanwaltschaft Wuppertal trotzdem untätig bleiben. Sie meint, gesetzwidriges Verhalten in der Verwaltung im Zuge der Kremendahl-Affäre ausgerottet zu haben und arbeitet seitdem eng mit der der Stadt zusammen. Sie wird nicht gegen sie vorgehen. Das lehrt die Erfahrung. 2018 verzichtete die Staatsanwaltschaft Wuppertal bereits darauf, die Verantwortlichen des ASS-Skandals zu verfolgen, obwohl der Hauptverantwortliche Dr. Slawig unter noch offensichtlicherem Verstoß gegen das Haushaltsrecht € 700.000,00 ohne Gegenleistung ausgegeben hatte und obwohl das Landeskriminalamt die Verfolgung für geboten hielt. Stattdessen klagte die Staatsanwaltschaft Wuppertal Panagiotis Paschalis an – zu Unrecht, wie das Landgericht Wuppertal und das Oberlandesgericht Düsseldorf inzwischen feststellten.
Folgen chaotischer Entwicklungen sind schwer vorherzusagen. Das ist denknotwendige Eigenschaft chaotisch verlaufender Kausalketten. Immerhin sicher dürfte trotzdem sein, dass Uwe Schneidewind bis zum Ablauf seiner Amtszeit 2025 keine Mehrheit mehr im Stadtrat haben wird. Sehr wahrscheinlich ist auch, dass dort keine Vernunft einzieht. Entscheidungen werden weiterhin von Macht- und nicht von Sachpolitik getrieben sein. Internes Aufbegehren und Beschwerden aus der „Stadtgesellschaft“ bewirkten zwar nach der gescheiterten Wahl von Alexander Vogel, dass CDU und FDP ihre Fraktionsspitzen austauschten. An der Dysfunktionalität von Institutionen ändert kosmetisches Stühlerücken aber nichts.
Es passt zum Chaos, dass ausgerechnet die Circular BUGA weiterhin den Rückhalt des Stadtrates genießt. Das lässt OB Schneidewind unbeirrbar weiterkämpfen für sein Prestigeprojekt. Er offenbart dabei Eigenschaften, die einem Demagogen gut zu Gesicht stünden. Unbequemen Fragen nach der Finanzierbarkeit begegnet er mit Hinweisen darauf, dass das vorgesehene Investitionsvolumen nur 4% der geplanten Gesamtinvestitionen der nächsten Jahre ausmache, die Stadt mutig sein und sich etwas trauen müsse, der Verzicht auf die BUGA ein falsches Signal an die Landesregierung wäre und er als Betriebswirt den wirtschaftlichen Nutzen der Veranstaltung besser beurteilen könne als der Historiker Slawig.
Damit bedient er subtil die Bedürfnisse derer in der „Stadtgesellschaft“, die glanzvolle Leuchtturmprojekte der Stadt vermissen, Bereitschaft zum Wagnis einfordern und das mit absurden Vergleichen untermauern (Nr. 1 mit großem Abstand: „Die Schwebebahn wäre sonst auch nie gebaut worden!“). Es ist Wasser auf die Mühlen derer, die trotzigen Widerstand gegen das Land NRW begrüßen und froh sind, dass der ungeliebte alte Kämmerer endlich weg ist.
Wer ohnehin so denkt, sieht gern darüber hinweg oder merkt gar nicht, dass die Antworten sich nicht einmal bemühen, die Bedenken zu entkräften, sondern in die Irre führen: Würde Wuppertal sich außerdem für Olympia bewerben und weitere Investitionsmittel von einer Milliarde einplanen, würde der Anteil der Circular BUGA sogar von 4 % auf weniger als 2 % sinken, ohne dass sich deren Finanzierungsaussicht verbessern würde. Und die laut Matthias Nocke entstehenden Mehrkosten für das Pina-Bausch-Zentrum (33 Millionen €) würden von 2 % auf 1 % sinken. Nur ändert Schönrechnen ebenso wenig etwas an der Finanzierungsaussicht wie die Sehnsucht nach Leuchtturmprojekten. Und der Historiker aus der Kämmerei hatte sich nicht zu den volkswirtschaftlichen Effekten der BUGA geäußert, sondern zu den fehlenden Mitteln für deren Finanzierung – was sein Nachfolger offenbar nicht anders beurteilt. Tatsächlich täuscht der OB mit seinen Antworten nur darüber hinweg, dass er nicht die geringste Ahnung hat, wie sein Lieblingsprojekt bezahlt werden könnte.
2025 wird OB Schneidewind aus dem Amt ausscheiden. Bis dahin wird ihn der Stadtrat, unterstützt von der SPD-dominierten Verwaltung in Wuppertal, an der Erreichung seiner sonstigen Ziele so gut es geht hindern. Es wird nicht mehr viel werden mit Transformation, Mobilitätswende etc. Seine Wiederwahl erscheint ausgeschlossen. Es passt zu seiner Selbsteinschätzung, dass er zu den wenigen gehört, die daran noch glauben. Wahlergebnis und Presse werden ihn als gescheiterten Oberbürgermeister in die Geschichte der Stadt eingehen lassen. Dass jeder OB in Wuppertal angesichts der chaotischen Verhältnisse zum Scheitern verurteilt ist, wird nicht einmal thematisiert werden. Für das bis dahin zu erwartende Haushaltsdesaster wird die öffentliche Debatte ihn verantwortlich machen und auf seine „hochtrabenden, aber nicht zu finanzierenden Pläne“ verweisen. Die CDU läuft sich mit dem wiedererstarkten Johannes Slawig an der Spitze schon warm. Uwe Schneidewind wird womöglich sogar noch von der Staatsanwaltschaft verfolgt, wenn er den Schutz des Amtes verloren hat. Ansonsten wird es in Wuppertal weitergehen wie bisher.
Chaotische Entwicklungen können nicht nur tiefgreifend sein, sondern auch sehr schnell gehen. Die meisten der im Stadtrat sitzenden Personen werden 2025 wiedergewählt werden. Dafür sorgen aber immer weniger Bürger, weil immer weniger wählen gehen. Die werden sich auch in Zukunft nicht repräsentiert fühlen, weil sich ihre Vertreter nicht um die Probleme der Stadt kümmern, sondern nur um ihre eigenen. Niemand weiß, wie lange das noch gut geht. Die Demokratie ist kein Naturgesetz.
In den vergangenen Tagen demonstrierten Hunderttausende Bürger Deutschlands für Demokratie und gegen Rassismus. Das ist gut, aber nicht genug. Es ist auch notwendig, sich vor Ort mit Mandatsträgern und ihrem Handeln zu beschäftigen. Denn es ist ihr Handeln, das den Boden für die Populisten bereitet, die angeblich niemand will. Es ist an der Zeit, dass die Bevölkerung der Stadt sich Gehör verschafft und die Selbstverwaltung der Kommune wieder Wirklichkeit werden lässt.