Das Wuppertaler Modell

15. September 2023, Dr. Christine Leithäuser


Die Kommunalpolitik in Wuppertal wird seit Jahrzehnten durch informelle Absprachen und politische Seilschaften geprägt. Kompetente Mitarbeiter in der Verwaltung werden aus politischen oder persönlichen Gründen entlassen. Neubesetzungen erfolgen nach Parteibuch. Das „Wuppertaler Modell“, die hier praktizierte Personalpolitik, hebt die verfassungsrechtliche Trennung von Legislative und Exekutive auf. Direkte Folge ist, dass sich kaum noch qualifizierte Bewerber von außen für eine Tätigkeit in der Stadt interessieren. Indirekte Folge ist, dass wesentliche Aufgaben der Stadtentwicklung verzögert oder erst gar nicht begonnen werden.


Abfallcontainer in der Luisenstraße, dem beliebten historischen Ausgehviertel Wuppertals


Personal und Politik

„Das macht die SPD.“ Das war das Einstellungsgespräch von Panagiotis Paschalis beim ehemaligen Bürgermeister Peter Jung. Als Partner einer großen Rechtsanwaltssozietät in Köln hatte er sich als Beigeordneter beworben. Er erwartete einen Austausch über seine Erfahrungen, seine Qualifikation, seine Pläne für die Stadt. Nichts dergleichen fand statt. Denn die SPD war "dran", den Beigeordneten auszuwählen. Paschalis war damals Mitglied dieser Partei. Das reichte. Aber als er dann unbequem wurde, indem er eine langjährige rechtswidrige Praxis in der Straßenverkehrsbehörde auch öffentlich anprangerte, ließen ihn die SPD und auch die CDU, FDP und die Grünen im Rat fallen. Paschalis wurde abgewählt und wegen übler Nachrede vom ehemaligen OB Mucke angezeigt. Umgehend eröffnete die Staatsanwaltschaft Wuppertal ein Verfahren, das sie durch drei Instanzen verfolgte und im August 2023 endgültig verlor. Der Schaden für die berufliche Karriere von Paschalis ist allerdings nicht mehr aufzuheben. Leider kein Einzelfall.

Adolphe Binder, entlassene Intendantin des Wuppertaler Tanztheaters, war das prominenteste Opfer von Rufmord in der Stadt Wuppertal. Nachdem sie sich kritisch zum Pina-Bausch-Zentrum, einem Lieblingsprojekt des ehemaligen Kämmerers Dr. Slawig, äußerte, wurde sie zur Zielscheibe unbewiesener Vorwürfe, die ihre fristlose Kündigung medial vorbereiten sollten. Die Kampagne führen sollte der PR-Berater Ulrich Bieger: Er beschreibt im WDR-Bericht „Schlangengrube Kulturbetrieb“ (vom 14.08.2019) und mehreren Interviews, wie die Vorwürfe gegen Frau Binder „zusammengeschrieben“ wurden. An diesen Treffen nahmen u.a. Stadtdirektor Johannes Slawig, Kulturdezernent Matthias Nocke, Tanztheater Wuppertal-Geschäftsführer Dirk Hesse, TTW-Prokurist Christoph Fries, eine Arbeitsrechtlerin sowie der Vorstandsvorsitzende der Bausch Foundation, Salomon Bausch, teil. Binder klagte gegen die fristlose Kündigung und setzte sich in allen drei Instanzen durch. Ihre Stelle hat sie nicht wieder antreten können. Von den in der Presse kolportierten Vorwürfen blieb nichts übrig. Einer Wuppertaler Journalistin, die sich geweigert hatte, die Vorwürfe zu publizieren und stattdessen die Kampagne gegen Binder kritisierte, wurde gekündigt. Die Ermittlungen gegen Ulrich Bieger wurden von der Staatsanwaltschaft Wuppertal eingestellt. Gegen Beamte der Stadt wurde in der Sache überhaupt nicht ermittelt. Der Schaden für den Ruf und die Karriere von Frau Binder blieb.

Der aktuelle Fall: Am 13. Juni diesen Jahres scheiterte die Wahl des designierten Beigeordneten für Personal, Digitalisierung und Wirtschaft. Der bisherige Beigeordnete, Arno Minas, hatte sich erfolgreich auf eine Position in Münster beworben, nachdem sein Ressort erheblich verkleinert worden war. Erst als Nachfolger von Panagiotis Paschalis hochgelobt, scheiterte er an seinem Parteibuch. Mitnichten hatte er sich ähnlich kritisch wie sein Vorgänger verhalten. Aber mit der Aufkündigung der Zusammenarbeit zwischen Grünen und CDU wurde auch er zur unerwünschten Person. Dieses Mal wollte die FDP die Position besetzen. Dazu diente sie sich der großen Koalition aus SPD und CDU im Rat an. Alexander Schmidt, inzwischen abgewählter FDP-Fraktionsvorsitzender, bewarb sich als Beigeordneter. Seine Eignung und Befähigung reichte aber letztlich nicht aus. Sehr spät, erst einen Tag vor der angesetzten Wahl, stellte sich dann der Überraschungskandidat Alexander Vogel einigen Fraktionen im Rathaus vor. Er konnte nicht überzeugen. Mehrere Ratsmitglieder zogen es am folgenden Tag vor, nicht zur Abstimmung zu erscheinen oder aber in geheimer Wahl mit Nein zu stimmen. Das Amt des Beigeordneten muss neu ausgeschrieben werden und die Karriere von Alexander Vogel hat einen empfindlichen Dämpfer erlitten. Bis Anfang September gab es auch keine Informationen über eine zumindest kommissarische Übernahme der Ressorts.

Dieses Mal aber erfolgten Reaktionen aus der Bürgerschaft. In offenen Briefen äußerten Unternehmer, Vereinsvorsitzende sowie Privatpersonen ihr Entsetzen und forderten ein Ende der Machtspiele im Rat. Es müsse nun endlich um das Wohl der Stadt gehen. Die Dezernate sollen ausschließlich nach Sachgründen zugeschnitten und besetzt werden, parteipolitische Interessen dürften keine Rolle mehr spielen. Als außen stehender Bürger sieht man das so. Der Rat der Stadt hat zum Wohle der Stadt zu handeln. Aber viele Politiker leben in ihrer eigenen Wirklichkeit.

Verschlossene Türen: Das Rathaus in Barmen.



Seilschaften statt Sachorientierung

„Ja, das können Sie schreiben, auch wenn es wieder Ärger geben wird.“ Gérard Ulsmann ist inzwischen aus der FDP ausgetreten und fraktionsloses Mitglied des Wuppertaler Stadtrates. Unter seinen ehemaligen Parteigenossen hat er sich keine Freunde gemacht mit seiner Offenheit zur gescheiterten Dezernentenwahl. Er berichtet von beleidigenden internen Chats, Unterstellungen bis hin zu verleumderischen Attacken. „Wer offen bestimmte Dinge kritisiert, wird abgestraft. Es gibt in den Parteien eine Versorgungsmentalität. Wer lang genug dabei ist, immer schön mitmacht, darf, wenn er möchte, Anspruch erheben auf ein herausgehobenes Amt oder z.B. eine Stelle als Büroleitung eines Abgeordneten. Diese Leute verbringen ihr Privatleben ebenfalls mit Parteifreunden, sie leben in großen Teilen mit und durch die Partei. Das heißt aber auch, dass sie oft wenig berufliche Erfahrungen in der freien Wirtschaft sammeln.“

Die Generation zwischen 30 und 40 ist in der FDP – eigentlich in allen Parteien – kaum vertreten. In dieser Lebensphase gründet man eine Familie, geht beruflich voran, bekommt Kinder. Da kann man nicht stundenlang in Gremien sitzen oder mit der Parteiclique Essen gehen. Viele qualifizierte Personen kehren den etablierten Parteien den Rücken - nachdem sie erfolglos versucht haben, sich einzubringen.

Gérard Ulsmann beschreibt Personen und ihre handlungsleitenden Motive. Man könnte einwenden, dass es sich um Einzelfälle handelt. Allerdings wird seine persönliche Prozessanalyse bestätigt durch empirische Daten aus der politikwissenschaftlichen Forschung. U.a. hat die Bertelsmann Stiftung 2019 eine Untersuchung zum Thema „Schwindendes Vertrauen in Politik und Parteien“ publiziert. Laut dieser vertrauen 36,5% der Befragten Parteien überhaupt nicht. 60% waren indifferent, nur 8% gaben an, Vertrauen in Parteien zu haben. Das war der schlechteste Wert für alle untersuchten Institutionen (S.72). Dieses Ergebnis korrespondiert mit den schwindenden Mitgliederzahlen der Parteien. Allgemein gesprochen: Bürger teilen inzwischen mit Parteien keine oder zu wenige Gemeinsamkeiten.

Das generelle Personalproblem politischer Parteien, das sich bei der Wahl des neuen Beigeordneten in Wuppertal schlaglichtartig zeigte, ist also systembedingt. Dies zu akzeptieren und die Personalauswahl transparent und an Qualitätsmerkmalen ausgerichtet durchzuführen, wäre der notwendige Schritt hin zu einer bürgerorientierten Sachpolitik. Liest man die aktuellen Interviews mit den Fraktionsvorsitzenden, erkennt man allerdings keinen Bedarf an grundlegender Änderung.


Direkte Demokratie

Wie kommt man aus dieser Situation zur Sachpolitik? Wie kann es gelingen, die Stadt lebenswerter und ökonomisch stabiler zu machen? Nur, indem die Parteien Macht an die Bürger zurückgeben. Das ist zunächst ein Akt der Legitimation. Gezielte und repräsentative Bürgerbefragungen, deren Ergebnisse auch umgesetzt werden, sind ein erprobtes und erfolgreiches Mittel, um Vertrauen zurück zu gewinnen und gleichzeitig vernünftige Entscheidungen für die Mehrheit zu treffen. In Wuppertal sind derzeit mehrere Themen in der öffentlichen Diskussion, ohne dass auch nur die Bereitschaft besteht, betroffene Anwohner einzubinden.


1. Beispiel: Hier will die Ditib-Gemeinde Wuppertal auf 6000m² eine große Moschee und ein islamisches Gemeindezentrum bauen.

Der Stadtrat stellt sich mehrheitlich vor, dass eine der hiesigen Moscheegemeinden für ein sehr zentrales Areal der historischen Nordstadt ein eigenes Stadtentwicklungsprojekt umsetzen darf. Die katastrophal naiven Vorstellungen zur Ditib, die im Stadtrat geäußert wurden, werden auf Elberfelds Straßen derzeit wie folgt kommentiert: „Ich bin aus einem islamischen Land vor diesen Leuten geflüchtet. Wir brauchen hier keine neuen Moscheen.“ Oder: „Da wird ein historisches Ensemble plattgemacht, das ein Teil der Identität der Nordstadt ist. Für eine kleine Gruppe, die unbedingt ihren Willen durchsetzen will.“ Die Äußerungen sind nicht repräsentativ, aber bemerkenswert. Ich persönlich würde gerne wissen, was die Mehrheit der Wuppertaler Bürger zum Thema denkt.

Auch fehlen in der Diskussion bislang die Alternativen. Muss es eine Moschee sein oder kann auf dem Areal auch etwas anderes entstehen? Der getroffene „Zielbeschluss“ vom März 2023 ist rechtlich nicht verbindlich, nur ein Bebauungsplan kann die Grundlage für eine städtische Neuordnung des Gebietes sein. Diesen gibt es bislang nicht, obwohl im Rat seit mehr als 10 Jahren über das Areal zwischen Ludwig- und Markomannenstraße diskutiert wird. Derzeit handelt es sich um ein sogenanntes §34 Gebiet, jeder Neubau muss sich an der Umgebung orientieren, einem städtebaulichem Mischgebiet. Direkt nebenan befinden sich ein Jugend- und Kulturzentrum, eine Schule, mehrere kleine Gewerbebetriebe und Wohnungen.

Was in der gesamten Nordstadt fehlt, sind Parkraum und Grünflächen. Die Vorgaben der Straßenverkehrsordnung zur Breite von Gehwegen werden fast überall ignoriert. Rettungsfahrzeuge bleiben häufig in zugeparkten Kurven und Straßen stecken. Eine denkbare Lösung: ein großzügiger "Mobility Hub", eine Parkpalette mit Dachterrasse, Service-Einheiten im Erdgeschoss, Regenrückhaltebecken und begrünten Fassaden. Die Verkehrssituation in der Nordstadt sowie der Widerstand in der Bevölkerung gegen den Moscheebau sind schon zwei gute Gründe, diese Diskussion in die Stadt zu tragen, weitere Alternativen zu erarbeiten und eine repräsentative Befragung der Bürger umzusetzen. Was wünschen sie sich in dem Viertel?


2. Beispiel: Umsetzung des Konzeptes der Fahrradstadt. Auf der Hünefeldstraße müssen ab sofort alle Fahrradfahrer auf der Straße fahren.

Die Umsetzung des Konzeptes Fahrradstadt 2025 stockt. Die jüngste Entwicklung an der Hünefeldstraße, an der bestehende Radwege zurückgebaut wurden und der Radverkehr nun auch gegen die Fahrtrichtung auf der engen einspurigen Straße geführt wird, hat bereits zu etlichen Leserbriefen geführt. Die Anwohner könnten sicherlich konstruktivere Lösungen entwickeln. Aber sie wurden nicht gefragt. Bislang ist die Akzeptanz der neuen Regelung sehr gering, vor allem weil der gesetzlich geforderte Mindestabstand von 1,5 Metern zwischen Auto und Fahrrad beim Überholen hier nicht eingehalten werden kann. Man fragt sich, ob die verantwortlichen Planer überhaupt vor Ort waren. So jedenfalls wird der umweltfreundliche Fahrradverkehr nicht gefördert. Konflikte und kritische Situationen in diesem Engpass sind vielmehr vorprogrammiert. Warum hat man keine andere Lösung gefunden?

Angesichts des personellen Notstandes in der Wuppertaler Verwaltung wäre es jedenfalls vernünftig, wenn engagierte, fachkundige und lokal vernetzte Bürger in die Planungs- und Entscheidungsfindung einbezogen würden.


3. Beispiel: Umgestaltung des Deweerthschen Gartens

Kopenhagen hat in den letzten zehn Jahren ein ambitioniertes Projekt umgesetzt: Den Umbau zur Schwammstadt. Nach einer verheerenden Überschwemmung wurde das gesamte System der Wasserführung, der Speicherung und der Versickerung auf dem Stadtgebiet überarbeitet. Ziel war, die Stadt bei Starkregen vor Schäden zu schützen und das Regenwasser in Trockenphasen zur Kühlung der Umgebung und zur Bewässerung einzusetzen. Stadtplaner, das Stadtparlament und die Bürger haben sich in den Planungs- und Umsetzungshasen intensiv ausgetauscht und Lösungen gefunden, die sogar ökonomisch günstiger sind, als immer wieder Hochwasserschäden zu reparieren. Öffentliche Parks dienen z.B. gleichzeitig als Wasserreservoir.

Auch Wuppertal hat ein Problem mit Starkregen, Hochwassern und Zerstörung von Bausubstanz im Talbereich. Aber es gibt noch nicht einmal Ansätze zur Planung, wie das Stadtgebiet und die Bürger künftig besser nach dem Prinzip der Schwammstadt geschützt werden könnten. Am Beispiel des Deweerthschen Gartens, der aufwendig umgebaut werden soll, wird dies besonders deutlich. Der Förderbescheid für die Umgestaltung ist schon da. Aber hier diskutiert der Rat derzeit lieber über einen Nachtbürgermeister und die Frage, ob in diesem Park nach zehn Uhr getrunken und gegrölt werden darf. Die Anwohner haben dazu auch eine Meinung. Wer fragt sie?


Fazit

Das Wuppertaler Modell, nach dem Beigeordnete und weitere ranghohe Mitarbeiter der Stadt vor allem nach politischer Zugehörigkeit und Anpassungsfähigkeit ausgesucht und protegiert werden, ist gescheitert. Es ist notwendig, ein neues Kapitel in der Stadtgeschichte aufzuschlagen. Denn die bestehenden ökonomischen, sozialen und ökologischen Probleme müssen gelöst werden. Direkte repräsentative Bürgerbefragungen und die Einbindung von Bürgern bei Planungen zu zentralen Themen der Stadtentwicklung sind ein Instrument, um zu breiten Mehrheiten in der Stadtgesellschaft zu gelangen, und um die Akzeptanz politischer Entscheidungen zu erhöhen. Es ist an der Zeit für mehr direkte Demokratie.

Die Stadt gehört den Bürgern.